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»Willkommen im Digitalzeitalter oder: Kennst du deinen digitalen Zwilling?« Gastbeitrag im KUDU Lesemagazin

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Dieser Artikel erschien in der Oktober-Ausgabe des KUDU Lesemagazins

Willkommen im Digitalzeitalter oder: Kennst du deinen digitalen Zwilling?

Es gibt einen unsichtbaren Vorgang, der unsere Welt komplett durchdringt. Unter der Oberfläche ist er permanent am Werk, sogar in diesem Augenblick; und weil er so supereffizient seine Arbeit verrichtet, ist im Laufe weniger Jahre etwas merkwürdiges passiert: dieser Vorgang hat ein komplettes Vexierbild, einen digitalen Zwilling jedes Menschen, jedes Unternehmens, jeder Stadt, jedes Dokuments und jeder Handlung angefertigt: egal, ob wir einkaufen, uns treffen, kommunizieren, bezahlen, lernen, telefonieren oder joggen. Auch vor dir hat der Vorgang nicht halt gemacht. Auch dich gibt es mittlerweile zweimal: als ein Mensch der echten Welt. Und als einen digitalen Zwilling.

Diesen Vorgang nennen wir heute Digitalisierung. Digitalisierung beinhaltet ein passives Moment, beschreibt, wie alle Wörter mit dem Suffix „-ierung“ (z. B. „Isolierung“ oder „Radikalisierung“) den Prozess, dass etwas von einer äußeren Instanz in einen neuen Zustand versetzt wird. Dies geschieht unter Umständen gewaltsam, etwas kann dabei kaputtgehen oder sogar zerreißen. Digitale Transformation, Disruption, „Move fast and break things“ – die martialische Sprache der Digitalisierung verrät, dass sie mitunter nicht nur friedlich abläuft. Genau deshalb, weil sie die Dinge von Grund auf in einen neuen Aggregatszustand versetzt, geht sie viel tiefer, als es auf den ersten Blick offensichtlich wird. Sie durchdringt jede Schicht unseres Lebens, unserer Arbeit und unserer Gemeinschaft. Deshalb ist die Digitalisierung – neben all den anderen Themen, die wir zu stemmen haben – die größte kulturelleHerausforderung, der wir uns als Gesellschaft zu stellen haben. Und wir haben es noch nicht einmal richtig bemerkt.

Ist das nun gut oder schlecht?
Und wie sind wir da hingekommen?

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir ganz an den Anfang zurück. Dorthin, wo die neue Zeit, die wir heute erleben, Fahrt aufgenommen hat: die 70er Jahre, in diesem idealistischen Jahrzehnt, in dem ich und mit mir meine ganze Generation geboren wurden – zusammen mit zwei bedeutenden Erfindungen: dem Personal C0mputer. Und dem Internet (wobei es damals noch nicht so hieß, es hieß stattdessen ARPANET und war ein Projekt des US-Verteidigungsministeriums). Lange führten die beiden eher ein technologisches Nischendasein – bis sich ihre Linien irgendwann überkreuzten, und das, was dabei herauskam, sich nicht etwa nur addierte, sondern potenzierte. In den 90ern, genau als wir studierten, eröffnete sich uns dadurch der grenzenlose, virtuelle Raum mit »Internet« und »E-Mail«, zeitgleich entwickelten zwei Studenten der Standford University namens Sergey Brin und Larry Page einen Algorithmus namens PageRank, aus dem im gleichen Jahr ein Unternehmen wurde: Google. Vernetzte Computer boten fortan eine Eintrittspforte in „das Netz“ für alle, wozu uns Boris Becker mit seinem berühmten Satz aus der AOL-Werbung, „Bin ich schon drin?“, einlud.

Ja, wir waren drin, und so trat das Internet pünktlich zum Millennium endgültig seinen Siegeszug an – als meine Generation Twens waren, gerade fertig studiert hatten, an unserem Berufseinstieg bastelten und uns in der Silvesternacht 2000 keine allzu großen Sorgen machten, dass der Millennium Bug uns zurück ins Mittelalter katapultieren würde. Dieses numerologisch bemerkenswerte Jahr 2000 markiert denn auch eine Zeitenwende: erstmals wurde mehr als die Hälfte aller Informationen über das Netz ausgetauscht.

Danach switchte die Realität endgültig auf die digitale Seite: 2001 digitalisierte Apple mit iPod und iTunes endgültig das Musik-Business, 2004 wurde Facebook, 2006 Youtube gegründet. 2007 kam mit dem iPhone das erste Smartphone auf den Markt, das Internet wurde mobil und begleitete uns fortan auf Schritt und Tritt; 2009 wurden Uber und Whatsapp, 2010 Instagram gegründet. Institutionen und Unternehmen der alten Welt erlebten zunehmend, wie ihr Geschäftsmodell über Nacht hinweggefegt wurde – durch einen Algorithmus, einen digitalen Service oder eine App, und bald zeigte sich auch die dunkle Seite der Digitalisierung: in der Fluidität der Daten. 2010 wurde bekannt, dass Google Street View nicht nur Straßenzüge, sondern auch auch private WLANs mit Daten aufgezeichnet hatte. 2011 räumte Facebook ein, über die API-Schnittstelle Userdaten Dritten frei zugänglich gemacht zu haben. Im gleichen Jahr kamen Sony nach Hackerangriffen über die PlayStation 100 Millionen Kundendaten abhanden. 2016 markierte das Jahr, in dem die Realität in meiner subjektiven Wahrnehmung endgültigsurreale Züge annahm: Donald Trump wurde Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und die Briten voteten für den Brexit – im Internet kursierten dunkle Gerüchte über Wahlmanipulation in großem Stil über die sozialen Medien. All das in nur zwanzig Jahren – allein diese Schilderung erzeugt das Gefühl von Atemlosigkeit.

Nur in der Rückschau, wenn man sich die Zeit nimmt, darüber nachzudenken, was eigentlich wirklich passiert ist, wird dem aufmerksamen Betrachter das große Bild klar. Der Vorgang der Digitalisierung ist so umfassend, so elementar und so tiefgreifend, dass er unsere physischen Gesetze auf den Kopf gestellt, unsere Wirklichkeitswahrnehmung verändert hat. Es hat sich ein feiner Spalt aufgetan, der im Laufe der Zeit breiter wurde und die Welt fortan einteilte in zwei Realitäten: die echte Welt. Und die digitale.

Unser Leben ist unglaublich effizient geworden durch die Digitalisierung: Wir optimieren unseren Schlaf, unsere Fitness, Partnersuche, unsere Ernährung, unser Linkedin-Profil, unser Aktienportfolio, wir tracken unsere Schritte, lesen rund um die Uhr News, bearbeiten Kalender und E-Mail Inboxen, sammeln Follower, wir nutzen jede Sekunde des Tages. Aber manchmal, wenn ich uns anschaue, kommt es mir vor, als wäre die Digitalisierung eine riesige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die einzig darauf abzielt, uns auf einer hirnlosen Mikroebene beschäftigt zu halten. Und so müssen wir, und vor allem meine Generation, die die Welle der Digitalisierung gesurft sind, feststellen, dass nicht mehr wir diejenigen sind, die die Technologie beherrschen, sondern sie zunehmend uns.

Ist es nicht Zeit, aus dem digitalen Hamsterrad auszubrechen? Uns wieder darauf zu besinnen, was wirklich wichtig ist? Wir müssen lernen, dass die digitalen Tools, die unsere Arbeitswelt so verändert haben, allein noch keine Wertschöpfung hervorbringen. Wir müssen begreifen – in den Unternehmen, in unserem eigenen Leben und auch als Gesellschaft –, dass Technologie nicht die Lösung, sondern Mittel zum Zweck ist. Dass wir uns vielmehr entscheiden müssen, wie wir leben wollen. Dass uns kein Algorithmus, keine App und keine Suchmaschine das selbstbestimmte Denken abnehmen können. Und dass es vor allem eines ist, was eine Gesellschaft im Innersten zusammenhält: eine gemeinsame Wirklichkeit.

Julia Peglow

… ist kein Digital Native. Sie gehört durch ihr Geburtsjahr 1973 der Generation an, die mit einem Bein im analogen und mit dem anderen im digitalen Zeitalter steht. Julia studierte Visuelle Gestaltung an der Hochschule für Gestaltung Schwäbisch Gmünd im ersten Studiengang mit Schwerpunkt »Neue Medien«, und am Ravensbourne College in London. Danach war sie zwanzig Jahre in der Kreativ- und Digitalbranche in London, Berlin und München als Strategische Beraterin und Geschäftsführerin für internationale Branding- und UX-Agenturen tätig.

2017 beschloss sie, anders zu arbeiten, um »wieder zum Denken zu kommen«. Heute berät sie Unternehmer, unterrichtet als Hochschuldozentin und schreibt als Autorin über das Leben im Digitalzeitalter, auch auf ihrem Blog »diary of the digital age«. Julia lebt in München, ist verheiratet und hat zwei Söhne.

Wir Internetkinder

Vom Surfen auf der Exponentialkurve der Digitalisierung und dem Riss in der Wirklichkeit einer Generation

Verlag Hermann Schmidt, Mainz
ISBN 978-3-87439-946-3
304 Seiten, Format 15 x 22 cm, Flexcover
29,80 €
(enthält 7% reduzierte MwSt.)