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Wie mein erstes Buch »Wir Internetkinder« aus meinem Diary entstand

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Welttag des Tagebuchs

Am 12. Juni (dem Geburtstag von Anne Frank) war Welttag des Tagebuchs. In diesem Blogbeitrag will ich dir erzählen, was alles entstehen kann, wenn man regelmäßig schreibt, seine Gedanken somit permanent reflektiert und in Verbindung mit sich selbst ist – und sich ganz nebenbei, sozusagen »on the fly«, ein riesiges Recherche- und Gedanken-Repertoire aneignet. Um die Pointe gleich vorweg zu nehmen: Ich habe es geschafft! Ich habe mein erstes Buch geschrieben, gerade ist es beim Verlag Hermann Schmidt, Mainz, erschienen: »Wir Internetkinder – Vom Surfen auf der Exponentialkurve der Digitalisierung und dem Riss in der Wirklichkeit einer Generation«. Im Herbst 2018 habe ich angefangen, zweieinhalb Jahre und Lockdowns später, im Frühjahr 2021, war ich fertig. Aber in Wirklichkeit habe ich viel früher angefangen, mein Buch zu schreiben: nämlich an dem Tag, an dem ich von meiner Mutter mein erstes Tagebuch geschenkt bekommen habe – zu meinem 13. Geburtstag, am 27. Oktober 1986.

Die Grenze zwischen Realität und Story

Seither habe ich immer geschrieben, mit einem großen Bedürfnis, das Chaos der eigenen Gedanken zu ordnen, die Welt und meine Zeit wenigstens in Ansätzen zu verstehen, das Leben, das so schnell vorbeifliegt, für mich und andere zu dokumentieren: in Tagebüchern, Skizzenbüchern, Blogs; in Notizbüchern, in denen ich Tagesabläufe, Situationen und Momente notiert, Menschen und Orte beschrieben habe. Manchmal habe ich über mich selbst in der 3. Person geschrieben (ich habe vor kurzem in den Diaries von Jonas Mekas die gleiche Angewohnheit entdeckt) und jedesmal bemerkt, dass ich in die Anfänge einer Geschichte hinübergleite. Dass diese Grenze zwischen der Realität und der Geschichte quer durch unser Leben, sogar mitten durch die profansten Alltagssituationen, verläuft. Deswegen ist auch nicht verwunderlich, dass ich im gleichen Jahr, 1986, gleich meinen ersten Roman begonnen habe, auf der Schreibmaschine meines Vaters. Ein „Coming-of-age“-Roman sollte es werden (hab ich damals natürlich nicht so formuliert), eine Geschichte von zwei Teenage-Mädchen, von der Schule, von Teenagerproblemen und wie sie herausfinden, dass es im Leben um mehr geht als oberflächliche Parties. Dieser Roman ist ein Fragment geblieben, das ich heute Gottseidank noch besitze; meine Mutter hat es, typisch für sie, für mich aufgehoben. Aber das Schreiben (und die Zwillingsschwester, das Lesen) hat mich seither nie wieder losgelassen. Es ist einfach meine Art, mit der Welt zu connecten. Wenn ich einen Stift in die Hand nehme oder in die Tasten haue, fühle ich ein merkwürdiges Vibrieren in den Fingern – weil sie irgendwie Kontakt aufnehmen.

Typologie der Tagebücher

Wenn ich heute meine Tagebücher anschaue (sie benötigen mehrere Kisten und Regalfächer Platz), so gab es verschiedene Phasen, in denen ich verschiedene Arten von Tagebuchschreiben ausprobiert habe: 

Das Gefühls-Tagebuch: In meinen gesamten Teen- und Twen-Jahren, 1986 – ca. 1998, habe ich einfach dem Rauschen meiner Gedanken und Gefühle zugehört und mitgeschrieben: alles, was mich beschäftigt hat. Im Nachhinein bin ich ein bisschen traurig, dass es dabei in weiten Teilen um unsinnige Jungs-Geschichten ging – ich würde heute meiner Tochter empfehlen, sich mehr auf ihre eigenen Gedanken und Erkenntnisse zu konzentrieren (ich habe aber Söhne, und die schreiben leider kein Tagebuch, obwohl ich ihnen mit 13 ebenfalls ein Tagebuch geschenkt habe). Aber es finden sich auch zwischendrin durchaus brauchbare Passagen, erste Skizzen für Kurzgeschichten etc.. 

Das visuelle Tagebuch: Die nächsten Jahre, ca. 1998 – 2003, habe ich auf die andere Seite gewechselt und ein Fototagebuch geführt; in diesen Jahren, die ich in Großstädten wie London und Berlin verbrachte, habe ich Tausende von Bilden geschossen und zu dicken Fotobildbänden verarbeitet. 

Das Protokoll-Tagebuch: Parallel entwickelte sich eine weitere interessante, experimentelle Ebene: 2000 – 2004 habe ich in einem täglichen, minutiösen Protokoll alles notiert, was ich an diesem Tag getan habe: die Minutiae, also nur die äußere Handlung festgehalten, vom morgens Orangensaft auspressen, über den Weg in die Arbeit bis hin zum Einkaufen im Supermarkt. Das mag jetzt sehr profan klingen, aber zum einen ist das eine sehr gute gedankliche Übung: Setz dich mal abends hin und schreibe auf, was du den ganzen Tag getan hast (manch einer würde erschrecken, wie wenig das de facto ist, vom scrollen und zoomen mal abgesehen). Der zweite Effekt stellt sich erst Jahre später ein: es ist ein eigenartiges Gefühl, so detailliert alles nachzulesen, was man vor Jahren getan hat, vor allem, weil man diese Dinge normalerweise schon lange vergessen hat. Oder kannst du sich erinnern, was du letzten Sommer getan hast, jeden Tag?

Das Erkenntnis-Tagebuch: Mein erstes Buch, das ich gerade veröffentlicht habe, ist aus meinen Tagebüchern 2016 – 2021 entstanden, als ich nach einer Tagebuchpause begann, mich intensiv mit der merkwürdigen Zeit auseinanderzusetzen, die zunehmend Fragen für mich aufwarf: das Digitalzeitalter. Ich hatte das Gefühl, dass da eine Veränderung im Gang war, so umfassend, alles durchdringend und von solch tiefem, kulturellem Ausmaß, und dennoch unsichtbar und wenig reflektiert, dass ich dieser Beobachtung nur in einer langen, verschriftlichten Auseinandersetzung mit mir selbst auf den Grund gehen konnte. 

Das digitale Diary: Etwa um diese Zeit habe ich auch ein öffentliches Tagebuch angefangen: meinen Blog, „diary of the digital age“. Denn mir war klar, dass dieses Thema zu groß ist, um es immer nur mit mir alleine ausmachen zu können – ich wollte wissen, ob es andere gibt, die sich ähnliche Gedanken machen wie ich.  

Tunnel graben

Jetzt ist ein Tagebuch schreiben und und ein Buch schreiben nicht dasselbe – letzteres ist natürlich ungleich komplexer. Es fühlt sich streckenweise an, wie in einem riesigen Bergwerk Hunderte von geistigen Tunneln gleichzeitig zu graben. Aber und zu begegnet einem dabei auch ein alter Nebenstollen, zu dem dann ein Durchstich gelingt: das sind oft Tagebuch- und Blogbeiträge, die man in der Vergangenheit geschrieben hat – es ist ein sehr befriedigendes Gefühl, diese an das ganze gedankliche System »anzuschließen«.

Nichtsdestotrotz bin ich überzeugt, dass es ohne das Tagebuchschreiben, offline und online, mein Buch nicht gäbe. Denn von nichts kommt nichts. Man hat eben nicht eines Tages die zündende Idee, setzt sich hin und schreibt sie in einem crazy fit von 72 Stunden ohne Essen und Schlafen runter. Das sind irgendwelche alten Mythen über kreative Prozesse, die leider immer noch weit verbreitet sind, die aber nicht der Wirklichkeit entsprechen. Nein, es ist ganz anders: die unbequeme Wahrheit ist, dass man alles, was zu irgendeiner Form von Erfolg oder Ergebnis führen soll, kontinuierlich tun muss. Und dass man eben den ganzen Weg gehen muss: Ein Buch zu schreiben ist eine mehrjährige, lange Reise in unbekannte Gefilde, nur um am Ende wieder vor sich selbst zu stehen und festzustellen, dass man die ganze Zeit im Kreis gegangen ist. Die französische Schriftstellerin und Feministin George Sand sagt dazu (ein Zitat, das ich in Mason Curreys fantastischem Buch »Daily Rituals gefunden habe): »Inspiration kann immer durch deine Seele fließen, egal ob während einer Orgie oder eines Waldspaziergangs. Aber wenn du deinen Gedanken eine Form verleihst, ob in deinem stillen Kämmerlein oder auf den Bühnenbrettern, musst du vor allem ganz bei dir sein.« Und dafür, kann ich aus Erfahrung sagen, gibt es einen fantastischen Ort: das Tagebuch.

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