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Auch die virtuelle Welt braucht eine Heimat

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Auch die virtuelle Welt braucht eine Heimat

Irgendwie ist es doch tröstlich zu wissen, dass die virtuelle Welt alleine nicht Selbstzweck sein kann und sich nicht einfach alles unter meinen Fingern in Luft auflöst. So geht es mir immer, wenn ich Nachrichten lese wie: das Silicon Valley will doch kein Auto bauen, weil die Konstruktion zu komplex ist; airbnb baut jetzt Wohnhäuser und Hotels, Amazon eröffnet echte Supermärkte. Also wird es vielleicht doch nicht so sein, dass wir oder spätestens unsere Nachfahren nur noch in Analog-Fruchtwasser-Becken liegen, an Ernährungssonden angeschlossen, mit VR-Brillen auf der Nase, um virtuell das Leben zu leben, das wir bei unserem Life-Provider abonniert haben?

Virtuelle Welt

Erd-Anker in der physischen Welt

Tröstlich finde ich übrigens bisweilen auch das Familienleben, das seeehr physisch ist und einen stets auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Tröstlich ist es auch, meinen Kindern dabei zuzusehen, wie sie Erfahrungen sammeln und sich die Welt spielend erschließen. Im vorpubertären Alter pirschen sie sich bei Ausflügen nicht nur in die echte, sondern auch in die virtuelle Welt vor (nur um dann wieder in die echte Welt zurückzukehren und sich am Kaminfeuer zu wärmen).

Virtuelle Welt

Ausflüge in die digitale Welt von Minecraft

Am liebsten hängen sie derzeit in ihren Minecraft-Welten ab. Wer’s nicht kennt: Minecraft ist das, was Lego sich bis heute ärgert, nicht erfunden zu haben, weil Minecraft ist wie Lego, nur im virtuellen Raum. Erfunden hat das Open-World-Spiel der schwedische Programmierer Markus „Notch“ Persson 2009, gehören tut es mittlerweile Microsoft und spielen tut es eine gigantische weltweite Community (120 Millionen verkaufte Einheiten). Bei Minecraft besitzt Du einen eigenen »Skin«, es gibt keinen festgelegten Spielverlauf, sondern du baust an Welten rum, in die Du gespawnt wirst und haust ab und an mal einen Creeper platt. Die lästigen Gesetze der Physik, mit denen wir uns in der echten Welt rumplagen, sind in Minecraft aufgehoben, schwere Materialien sind zum Beispiel schwerelos und können beliebig eingesammelt und an anderen Orten wieder eingebaut werden (das wäre z.B. beim Bau der Cheops-Pyramide ganz praktisch gewesen). Charmant ist auch, dass Du entweder im Überlebensmodus oder im Kreativ-Modus spielen kannst (Wikipedia: »…in dem es keine Gesundheit gibt und dem Spieler unbegrenzte Mengen an Ressourcen zur Verfügung stehen« – diesen Modus hätte ich auch manchmal gerne in der echten Welt).

Virtuelle Welt

Natürlicher Weltenwechsel

Das schönste ist aber, wie virtuos und natürlich die Kids zwischen den Welten wechseln, zwischen der virtuellen und der physischen. Sie konstruieren virtuelle Welten am Computer, nur, um dann tagelang ihre Skins aus Pappe und mit Tesa nachzubauen. Sie zeichnen Skins auf Karopapier und schneiden Schwerter aus Depavit-Gummi. Sie googeln Blauverläufe, um sie dann auszudrucken und damit ihre Papp-Rüstungen zu bekleben. Sie verkleiden sich mit diesen selbstgebastelten Skins als kopfloser Noop und ziehen um die (echten) Häuser.

Virtuelle Welt

Das physische Objekt als Gedächtnisstütze

Was sieht man daran? Der Mensch muss nun mal die Dinge mit seinen eigenen Händen anfassen, um sie im wahrsten Wortsinn zu begreifen. Auch und vor allem die Dinge, die ihm in der virtuellen Welt begegnen. Er muss sie in seine terrestrische Logik rückübersetzen. Denselben Effekt sieht man beim Lesen von Büchern; einer norwegischen Studie der Stavanger University von 2014 zufolge können sich Menschen Dinge nachweislich besser merken, die sie in einem Hardcopy-Buch im Vergleich zu einem e-book gelesen haben (Guardian: »The researchers suggest that ’the haptic and tactile feedback of a Kindle does not provide the same support for mental reconstruction of a story as a print pocket book does’.«). Wenn man darüber nachdenkt ist das klar: Das physische Objekt des Buches liefert schon mal einen Haufen augenscheinliche Informationen, die Rückschlüsse auf die Information im Buch ermöglichen: Wie dick ist es? Wie schwer ist es? Was steht auf dem Objekt geschrieben? Wer ist der Autor (Ich kann mir zum Beispiel nie den Namen eines Autoren merken, den ich auf dem Kindle gelesen habe)? Auch die Information im Buch kann physisch verortet werden: Man weiß ungefähr, an welcher Stelle man eine bestimmte Information gelesen hat, und demzufolge kann man sich die Information besser merken!

Virtuelle Welt

Terrestrische Verhaltensweisen

Das hat vielleicht damit zu tun, dass ja auch unsere Speichereinheit, das Gehirn, ein dreidimensionales Objekt ist. Das erklärt wiederum sicher auch das Unbehagen, das viele Menschen gegenüber Cloudspeichern haben, da sie einfach nicht nachvollziehen können, wo eine Information physisch abgelegt wird. Oder warum viele Menschen die Flut der täglichen Emails immer noch in virtuelle Ordner sortieren (typische »terrestrische« Verhaltensweise, die im digitalen Raum auf Grund der Masse an Information eigentlich keinen Sinn macht – Google verwaltet ja auch nicht die gesamte Information der Welt in Ordnern, sondern optimiert ständig seine Suchalgorithmen).

Manchmal denke ich, können wir uns ja auch ein bisschen auf uns als Menschen verlassen. Weil wir  einen ganz guten Instinkt haben, was wir brauchen, um die Welt zu verstehen. Man darf es nur als Erwachsener nicht verlernen.