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»Vernetzte Weisheit« – Auszug aus »Wir Internetkinder« auf Krass & konkret

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Dieser Beitrag erschien am 9. Januar 2022 auf krass & konkret.

Wie findet man im digitalen Zeitalter Antworten auf große Fragen? Wir haben uns so daran gewöhnt, reflexartig zu googeln, wenn wir Dinge nicht wissen oder schnell eine Information brauchen, dass wir das vergessen haben. Das Internet ist ein riesiger Referenzraum für Informationen – aber nicht für tiefes Wissen, Weisheit und Wahrheit. Diese sind langsamer getaktet.

Genauso schnell wie ich googele, bekomme ich spiegelbildlich auch die Antwort: die Öffnungszeiten vom Blumenladen, ein Kochrezept für Kürbissuppe, wie sich das Gesicht von Meg Ryan in den letzten Jahren durch Botox verändert hat, wie ich die Dateigröße eines pdfs komprimiere oder was „Fehler E23“ auf dem Display meiner Siemens-Waschmaschine bedeutet. Schnelle Frage, schnelle Antwort. Aber zwei Sekunden Google-Suche zu investieren, wenn ich auf der Suche nach Wissen, Weisheit und Wahrheit bin oder mich aus einer Sinnkrise befreien möchte, ist unverhältnismäßig wenig Zeiteinsatz – deshalb liefert mir Google zwar fast zehntausend Treffer auf die Suchanfrage „Sinnkrise Digitalisierung“, aber keine Antworten.

Ein Buch schon.

Weil es sowohl vom Autor als auch vom Leser einen Zeiteinsatz einfordert. Und zwar zeitversetzt: Der Autor hat die Zeit investiert, das Buch zu schreiben. Das ist kein leichtes Geschäft und auch nicht mal eben erledigt. Der Leser wiederum entscheidet sich, seine Zeit zu investieren, um sich mit der Sache, um die es in dem Buch geht, auf einer tieferen Ebene auseinanderzusetzen. So verbringen Autor und Leser gemeinsame Zeit in einem Bedeutungsraum, und es kann eine ziemlich intensive Beziehung zwischen beiden entstehen, in etwa so, als hätten sie einen Abend tief greifender Gespräche bei zwei Flaschen Rotwein verbracht.

Der Autor erschafft ein Bild, das der Leser tatsächlich vor seinem inneren Auge sehen kann; Autor und Leser sehen beide das Gleiche, obwohl sie räumlich und zeitlich vielleicht sogar Jahre getrennt sind voneinander. Sie lassen sich aufeinander ein. Und das ist die Voraussetzung, wenn man nicht nur schnelle Antworten erwartet. Sondern in der Lage sein will, überhaupt erst mal die richtigen Fragen zu stellen.

Generationen-Echokammer

Die Erkenntnis, dass die Welt komplexer ist als „Fehler E23“, führt mich in Richtung tiefes Wissen. Der Impuls, tiefere Fragen zu stellen, führt mich in Richtung Weisheit. Das Internet ist und bleibt ein Informationsnetzwerk, aber Bücher sind für mich ein Weisheitsnetzwerk. Zu tieferem Wissen befähigt das Büchernetzwerk auch dadurch, dass es über eine viel gigantischere Zeitspanne entstanden ist und ergo einen viel tieferen Referenzraum beschreibt als das Internet. Bücher gibt es schon seit Tausend Jahren. In Büchern sind die Dinge nicht nur so beschrieben, wie wir sie heute sehen, sondern auch unveränderlich fixiert, wie man sie damals gesehen hat, als das Buch geschrieben wurde. Und durch diese „Wahrnehmungsschere“ zwischen gestern und heute tut sich ein neuer Raum auf, aus dem ich manchmal mehr über die Welt lernen kann als aus dem Buchstoff selbst.

Ganz im Gegensatz dazu das flache Wissen im Netz: Es ist lediglich so alt wie unser eigenes Wissen! Bei Wikipedia ist auf einer der ersten rudimentären Netzwerk-Skizzen des Arpanet, dem Vorläufer des heutigen Internets, dessen Geburtsjahr zu erkennen: 1973. Das bedeutet: Wir, die Internetkinder, sind so alt wie das Internet; wir, die Generation der in den 1970er Geborenen, die, die gerade größtenteils die wirtschaftliche Welt bevölkern und am Hebel sitzen. Kein halbes Jahrhundert an Informationen – gegenüber einem Jahrtausend an Weisheit.

Die ältesten Google-Treffer am Boden des Internets dokumentieren die Sichtweise der Menschen Mitte der 1990er-Jahre, die Real-Time-Treffer sind die Breaking News dieser Sekunde. Das also ist alles, was uns der Referenzraum des Internets zu bieten hat? Das bedeutet doch, dass die gesamte, googelnde Menschheit einer extrem eindimensionalen Sichtweise ausgeliefert ist: der Perspektive von etwa zwanzig Jahren – seit Informationen im Internet digital gespeichert werden. Was ist mit allem, was vor dieser Zäsur geschah? Alle analogen Denker, alles analoge Wissen? Das finden wir – trotz Retro-Digitalisierungsprojekten wie Google Books oder Google Art Project – nicht beim googeln. Das bedeutet, dass wir uns kollektiv als Generation in einer Zeitblase aus flachem Wissen und begrenzter Perspektive bewegen, die uns umgibt, seit wir mündige Teilnehmer der Erwachsenenwelt sind.

Irgendwie hat unsere Wahrnehmung der Welt durch dieses omnipräsente Erklärungsmodell des Internets eine enorm kurzfristige und verflachte Perspektive eingenommen – wir stellen schnelle Fragen und geben uns zufrieden mit den schnellen Antworten, die uns Google, Social Media und die News-Seiten liefern: bruchstückhaft, kleinteilig, extrem verhaftet im Hier und Jetzt. Wir haben verlernt, die Dinge aus unterschiedlichen Zeit- und Generationenperspektiven zu betrachten – und damit unsere eigene Sichtweise zu relativieren. Wir stecken nicht nur in der algorithmischen Echokammer, die uns immer nur die News ausspielt, die unserem Profil entsprechen; das Internet selbst ist unsere Generationen-Echokammer.

Das wird sich auch in Zukunft nicht so schnell ändern, selbst wenn das Internet irgendwann Jahrhunderte auf dem Buckel haben wird.

Denn im Wesen von Daten ist angelegt, dass sie eine sehr kurze Lebensdauer haben, sie veralten extrem schnell. Man sagt, ein Blog-Post lebt im Schnitt zwei Jahre. Ein LinkedIn-Post vierundzwanzig Stunden. Ein Facebook-Post fünf Stunden. Ein Twitter-Post achtzehn Minuten. Wir werden also weiterhin Real-Time-Content ins Netz kippen, um die Welt zu beschreiben. Und unser Bild der Welt wird ergo weiterhin das digitale Real-Time-Bild sein, das das Netz uns zeigt.

Seit fünftausend Jahren dokumentiert der Mensch seine Geschichte schriftlich. Im Netzwerk der Bücher ist das Wissen langsamer getaktet und bezieht sich auf größere Zeitläufe; vor allem aber beschreibt es mehrdimensionale Perspektiven – und damit ein größeres Bild der Welt. Wir, die Internetkinder – deren Leben heute aus Tausenden von News-Fetzen, Mails und Kalender-Pings besteht, deren Weltsicht völlig fragmentiert und innen drin leer ist –, werden dieses größere, tiefere und langsamere Bild brauchen, um aus unserer Echokammer auszubrechen. Um zu erkennen, was verkehrt läuft.

Das Büchernetzwerk

Dass Bücher ein größeres Bild beschreiben können, hat aber noch einen weiteren Grund. Bücher sind eben kein gigantischer, hermetisch abgeriegelter Offline-Contentspeicher aus altem Wissen, wie es heute in der hippen Digitalblase oft unterstellt wird. Bücher sind miteinander vernetzt. Das kommt daher, dass Menschen, die Bücher schreiben, selbst auch viele Bücher lesen. Und deshalb enthält ein Buch unendlich viele Bücher.

Ein Buch ist nicht nur ein dreidimensionales Objekt aus Papier und Buchdeckel – in Wirklichkeit ist es ein Knotenpunkt mit Verbindungslinien zu ganz vielen anderen Büchern. Man stelle sich dieses gigantische Büchernetzwerk an Verlinkungen als Bild vor: Es sieht ähnlich aus wie diese Weltkarte mit den Flugverbindungen im Lufthansa-Magazin. Es gibt einige sehr alte Knotenpunkt-Bücher, auf die ganz viele Linien verweisen, wie Aristoteles’ „Nikomachische Ethik“ oder Dante Alighieris „Göttliche Komödie“ – unzählige Bücher verweisen auf diese Hubs. Solche Bücher entsprechen auf der Map des Büchernetzwerks Flughäfen wie London Heathrow oder Beijing Capital. Aber auch jedes neuere Buch, das erscheint, ist ein weiterer, potenzieller Hub auf dieser Karte. Yuval Noah Harari hat mit „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ beispielsweise einen solchen relativ neuen Knotenpunkt geschaffen.

Mehrdimensionale Leser:inne haben beim Lesen nie das Gefühl, ein Buch zu lesen; eher bewegen sie sich beim Lesen in diesem gigantischen Büchernetzwerk und Weisheitsspeicher herum. Kein Buch ist isoliert zu sehen; vielmehr profitieren alle Beteiligten, wenn ein Buch Spuren legt zu anderen Büchern. Aus mehreren Gründen: Erstens, um auf andere Bücher zu referenzieren, die in das eigene Denken eingeflossen sind, und ihnen dafür den Credit zu geben. Zweitens, weil sich das Wissen der Welt vernetzen muss, damit es fließen kann. Und drittens, um Spuren zu legen für den Leser. Denn die Chance, dass, wenn ihm das eine Buch gefällt, ihm das weisheitsvernetzte Buch auch zusagt, ist hoch. Gegen diese organische, wertvolle Verbindung wirkt der Amazon-Algorithmus „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch“ wie eine dieser körperlosen Computerstimmen-Telefonansagen – im Vergleich zu einem guten Gespräch.

Der Text ist ein Auszug aus Julia Peglows Buch: „Wir Internetkinder – Vom Surfen auf der Exponentialkurve der Digitalisierung und dem Riss in der Wirklichkeit einer Generation“, das im Schmidt Hermann Verlag erschienen ist. Julia Peglow ist Designstrategin, Autorin, Chronistin, sie gehörte mit dem „ersten Studiengang mit Schwerpunkt „Neue Medien“ der Generation an, die mit einem Bein im analogen und mit dem anderen im digitalen Zeitalter steht: Ich gehöre dem Jahrgang an, der im ersten Semester des Designstudiums noch mit Rapidograph gezeichnet hat, um im 4. Semester »if-then« mit Lingo zu coden.“