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»Raus aus der Echokammer!« – Gastbeitrag im Börsenblatt

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Dieser Artikel erschien am Donnerstag, 21.7.22 im Börsenblatt online, in der Rubrik »Gastspiel«. Danke an Chefredakteur Torsten Casimir!

»Raus aus der Echokammer!« – Julia Peglow über die Referenzräume von Buch und Internet

Im Gegensatz zum schnellen, digitalen Internetwissen ermöglichen Bücher die mehrdimensionale Auseinandersetzung mit einem Gedanken. Autorin Julia Peglow über die neue, alte Rolle eines Intensivmediums.

Wie findet man im digitalen Zeitalter Antworten auf große Fragen? Wir haben uns so daran gewöhnt zu googeln, wenn wir etwas nicht wissen, dass wir das vergessen haben. Genauso schnell wie ich google, bekomme ich auch die Antwort: ein Kochrezept für Kürbissuppe oder was »Fehler E23« auf dem Display meiner Siemens-Waschmaschine bedeutet.

Schnelle Frage, schnelle Antwort. Aber zwei Sekunden Google-Suche zu investieren, wenn ich nach tiefem Wissen, Weisheit und größeren Zusammenhängen suche, ist unverhältnismäßig wenig Zeiteinsatz – deshalb liefert mir Google zwar fast 10 000 Treffer auf die Suchanfrage »Sinnkrise Digitalisierung«, aber keine Antworten. Ein Buch schon.

Weil es sowohl von Autor:in als auch Leser:in einen Zeiteinsatz einfordert: Die Autorin hat die Zeit investiert, das Buch zu schreiben. Die Leserin wiederum entscheidet sich, ihre Zeit zu investieren, um sich mit dem Buch auf einer tieferen Ebene auseinanderzusetzen. Das befähigt beide, etwas zu tun, was in unserem digitalen, fragmentierten Alltag aus ständig auf uns einprasselnden Push-Notifications, Real-Time-News-Fetzen, Mails und Kalender-Pings selten geworden ist: einem zusammenhängenden, linearen Gedanken zu folgen. Dieser Zeiteinsatz spiegelt sich auch in der Halbwertszeit von Daten: Sie veralten extrem schnell. Ein Blog-Post lebt im Schnitt zwei Jahre. Ein LinkedIn-Post 24, ein Facebook-Post fünf Stunden, ein Twitter-Post 18 Minuten. Zum Vergleich: Aristoteles’ »Nikomachische Ethik« lebt seit über 2000 Jahren.

Zu tieferem Nachdenken befähigen Bücher auch dadurch, dass sie über eine gigantische Zeitspanne entstanden sind und ergo einen viel tieferen Referenzraum beschreiben als das Internet. Bücher gibt es schon seit 1 000 Jahren, jedes repräsentiert die Weltsicht seiner Zeit. Deshalb kann ich als Leserin die Welt – die meiner eigenen Zeit, der Vergangenheit, der Zukunft – aus mehrdimensionalen Perspektiven betrachten: aus der Sicht des Gestern und Heute. Durch diese Wahrnehmungsschere tut sich ein neuer Raum auf, aus dem ich manchmal mehr über die Welt lernen kann als aus dem Buchstoff selbst.

Ganz im Gegensatz dazu das flache Wissen im Netz: Es ist lediglich so alt wie mein eigenes Wissen! Denn ich bin so alt wie das Internet – kein halbes Jahrhundert. Mein Geburtsjahr 1973 ist auf einer der ersten Netzwerk-Skizzen des Arpanet zu sehen – dem Vorläufer des heutigen Internets. Ich stoße auf meinen Ausflügen in die tieferen Sedimentschichten des Internets manchmal auf »digitale Fossilien« – Content aus den 90er Jahren. Älter wird er nicht, der Stoff im Netz. Die ältesten Google-Treffer am Boden des Internets dokumentieren die Sichtweise der Menschen Mitte der 1990er Jahre, die Real-Time-Treffer sind die Breaking News dieser Sekunde.

Das also ist alles, was der Referenzraum des Internets zu bieten hat? Das bedeutet doch, dass die googelnde Menschheit einer extrem eindimensionalen Sichtweise ausgeliefert ist: der Perspektive von etwa 20 Jahren – seit ein Großteil der weltweiten Informationen digital im Internet gespeichert wird. Was ist mit allem, was vor dieser Zäsur geschah? Allen analogen Denkern, allem analogen Wissen? Das finden wir – trotz Retro-Digitalisierungsprojekten wie Google Books – nicht beim Googeln. Das bedeutet, dass wir uns kollektiv als Generation in einer Zeitblase aus flachem Wissen und begrenzter Perspektive bewegen.

»Wir haben verlernt, die Dinge aus unterschiedlichen Zeitperspektiven zu betrachten.«

Irgendwie hat unsere Wahrnehmung der Welt durch dieses omnipräsente Erklärungsmodell des Internets eine enorm kurzfristige und verflachte Perspektive eingenommen – wir stellen schnelle Fragen und geben uns zufrieden mit den schnellen Antworten, die uns Google, Social Media und die News-Seiten liefern: bruchstückhaft, kleinteilig, extrem verhaftet im Hier und Jetzt. Wir haben verlernt, die Dinge aus unterschiedlichen Zeit- und Generationenperspektiven zu betrachten – und damit unsere eigene Sichtweise zu relativieren. Wir stecken nicht nur in der algorithmischen Echokammer, die uns immer nur die News ausspielt, die unserem Profil entsprechen; das Internet selbst ist unsere Echokammer.

Der humanistische Diskurs über Technologie, ihre Auswirkungen auf Mensch und Gesellschaft, ist irgendwie im Sande verlaufen. Ist das Schnelle-Antworten-Internet daran schuld? Das Smartphone, das wir rund um die Uhr in der Hand haben? Social Media, das alle Messages nach dem Kriterium »likeable« gleichmacht? Liegt es an der Monokultur der Tech-Branche, in die kaum eine Geisteswissenschaftler:in je einen Fuß setzt, oder daran, dass die alten Denker:innen ausgestorben sind, dass an ihre Stelle der Schwarm getreten ist, der nur noch postet, teilt, kommentiert und keinen originären, neuen Gedanken mehr hervorbringt?

Wer kann sie jetzt beantworten, unsere Fragen danach, wie wir das Digitalzeitalter einzuordnen haben? Wo anders soll er stattfinden, dieser Diskurs, als in Büchern? Sie regen wie kein anderes Medium zur tiefen, mehrdimensionalen Auseinandersetzung mit einem Thema an. Vor allem aber beschreiben sie mehrdimensionale Perspektiven – und damit ein größeres Bild der Welt. Wir, die Internetkinder, werden diese »Digitale Renaissance« brauchen, um uns aus unserer Echokammer zu befreien. Um uns unser selbstbestimmtes Denken zurückzuerobern!