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Julias t3n-Kolumne: »Wir sind die Roboter: Performance, Perfektion, Planung, Kontrolle«

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Dieser Beitrag erschien in meiner Kolumne »diary of the digital age« in der t3n online am Sonntag, 4. September 2022. Hier auf t3n lesen :-)

Um die komplexen Anforderungen des modernen Lebens im Digitalzeitalter zu managen, schreiben wir ToDo-Listen und Tickets. Julia Peglow aka jpeg darüber, dass uns die Denkstrukturen des Digitalzeitalters unweigerlich verändern – und es an uns liegt, wer oder was wir sein wollen.

Liebes digitales Tagebuch, weißt du, was ich beschlossen habe? Ich werde nie mehr ToDo-Listen schreiben. Ja, ganz im Ernst! Weißt du, ich habe das viel zu lang getan. Diese wilden, schnellen Jahre, in denen ich Managerin einer Design-Agentur und einer Familie war. Mein Leben war vierundzwanzig Stunden am Tag geprägt von Tausenden von Dringlichkeiten, Details und Anforderungen, die der Alltag an mich herantrug.
Immer habe ich mir alles auf der ToDo-Liste notiert, was zu tun war, online und offline, digital und analog, auf Post-Its oder diversen digitalen Tools: eine Abgabe an den Kunden, Vertragsverhandlung für eine wichtige Ausschreibung, Kuchen backen für Schulfest, Angebote schreiben, Präsentationstermin vorbereiten, Einkaufslisten schreiben, Altglas wegbringen, Kieferorthopädentermin vereinbaren, Geburtstaggeschenke besorgen – ein Strom nie versiegender Business- und Familienaktivitäten.

Projektmanagement versus Leben

ToDo-Listen, Kalender- und Ticketsysteme und sämtliche digitalen Varianten davon sind effiziente Tools, die Komplexität des modernen Lebens zu managen – egal, ob es sich um die Familie oder ein Business handelt. Dahinter steht eine bestimmte Denkweise: Das Leben ein Projekt und ich die Projektmanagerin des Lebens. Was war mein Antrieb, meine Maxime in diesen linkgehirnigen ToDo-Listen-Jahren? Performance, Perfektion, Planung, Kontrolle: das Chaos des Lebens mit tougher Organisation, Struktur und Projektmanagement zu kompensieren.

Zu viele Projekte auf dem Tisch? Die Kinder krank und das Business läuft aus dem Ruder?? Das Tempo auf der Exponentialkurve der Digitalisierung zieht immer mehr an??? Kein Problem – lange war mein Credo, einfach das Level an Organisation und Projektmanagement hochzufahren, noch genauer zu planen, noch tiefer gehende Kontrolle, noch hochauflösendere ToDo-Listen schreiben.

Projektmanager:innen des Digitalzeitalters

Wenn man im digitalen Geschäfts- und Familienleben leistungsorientiert performen will, bleibt einem eigentlich nichts anderes übrig. Im digitalen Lifestyle laufen, wie in einem Echtzeit-Game of Thrones-Drehbuch, ständig mindestens sechsunddreißig Handlungsstränge parallel, überlagernd und sich überkreuzend, die Handlung springt ständig hin und her, jeder Handlungsstrang hat seine eigene Komplexität, erfordert seine eigene Planung, das ist das Tempo und das Multitasking des Digitalzeitalters, da muss man nicht nur Schritt halten, sondern immer einen Schritt voraus sein!

Unsere Arbeit im Digitalzeitalter ist geprägt von Real Time, Gleichzeitigkeiten und Parallelitäten, sie hat keinen Anfang und kein Ende, sondern läuft wie Software Development unter »continuous improvement«, der Druck lässt nie nach, die Prozesse sind schon lange nicht mehr linear, mit »eins nach dem anderen«, wie es uns unsere geduldigen Eltern gelehrt haben, kommt man nicht mehr weit.

Im Gegenteil, die Zeiträume ziehen sich immer mehr zusammen, man kickt das eine schon los, bevor das andere vorbei ist, die Vorbereitung ist die Bearbeitung ist die Nachbearbeitung. Keine Zeit für Pausen, Zwischenräume, Transition Phases. Dinge schon erledigt haben, bevor irgendjemand, die Kund:in, das Kind, die Lehrer:in oder Steuerberater:in überhaupt auf die Idee kommt zu fragen. Mit Effizienz, Projektmanagementmentalität, Disziplin und Schnelligkeit sämtliche Bälle in der Luft jonglieren.

Führt das nicht unweigerlich dazu, dass wir alle, die Projektmanager:innen des Digitalzeitalters, immer nur vordenken, nie mehr im Augenblick anwesend sind, immer zeitlich nach vorne versetzt, nicht in der Gegenwart, sondern in der Zukunft agieren? Führt das nicht dazu, dass wir die menschliche, kreative Art, mit der Zeit umzugehen – mal spontan sein, mal dem Zufall eine Chance geben, mal Dinge aufschieben, mal gut Ding Weile haben lassen, mal Nägel mit Köpfen machen –, verlernen, zugunsten des brutalen Effizienzdenkens der ToDo-Liste, die jeden sich organisch entwickelnden Prozess überschreibt?

Käfer und ToDo-Listen-Roboter

Liebes Tagebuch, weißt du was? Eines Tages bin ich aufgewacht. Und habe festgestellt, dass ich mich zwar nicht in einen Käfer verwandelt habe, wie der arme Gregor Samsa in Kafkas seltsamer Erzählung »Die Verwandlung« – aber dafür in einen superdurchstrukturierten, linksgehirnigen, metallisch glänzenden ToDo-Listen-Roboter. Ein Roboter, der sämtliche Geschehnisse und Erlebnisse um ihn herum danach scannt, was noch erledigt werden muss, der reibungslos nach seinem bulletpointartigen Skript performt – aber alles, was das Leben ausmacht, das, was fließt und alles zusammenhält, vergessen hat.

An diesem Morgen habe ich mich gefragt: Gleicht die Arbeit im Digitalzeitalter nicht sowieso einer riesigen, superdurchstrukturierten Datenbank, die der Welt und dem Leben ihre Logik, ihre Struktur aufdrückt? Das ganze Leben verhackstückt in Algorithmen, if-then-Befehlsketten und vorgestanzte Eingabefelder, nach deren Struktur ich mich als kleines Zahnrad im Digitalzeitalter brav richte und jede meiner Handlungen an die vorgegebene normierte Schablone anpasse, um die große Maschine am Laufen zu halten? Und fällt mir nichts anderes ein, als in vorauseilendem Gehorsam beflissen ToDo-Listen zu schreiben, ich, die perfektionierte Performance-Projektmanagerin des Digitalzeitalters? Wie ein Skript auf zwei Beinen? Nicht mit mir!

Alles, was nicht auf der ToDo-Liste steht

Irgendwann habe ich gemerkt, was mir vor lauter Bulletpoints, Effizienz, Struktur und Multitasking verloren gegangen ist: der Sinn dafür, was wichtig ist. Worum es eigentlich geht. Irgendwann fiel mir auf, welche Themen eigentlich nie auf meinen ToDo-Listen stehen: Verbindung und Beziehung mit Menschen. Schönheit. Flow. Liebe. Inspiration.

Wir schreiben unser eigenes Skript, wir können unsere eigenen Gehirne programmieren. Wir können ein Leben als Bulletpoint führen, ein Leben, das aus Punkten auf der ToDo-Liste besteht. Oder aber ein Leben abseits der ToDo-Liste. Wir haben immer die Wahl: auf die Struktur zu schauen. Oder den Inhalt. Die Struktur hat dabei immer einen Nebeneffekt: dass das Spielerische unweigerlich verloren geht.

Liebes Tagebuch, heute verspreche ich dir etwas: Ich werde lernen, mit dem Chaos zu leben. Ich werde ein Leben leben zwischen den Bulletpoints auf der ToDo-Liste. Ich werde die Graubereiche betreten und abwägen zwischen Planung und Improvisation. Ich werde immer nur so viel erledigen, wie ich mir merken kann. Mehr passt nicht rein in den Kopf. Und ich werde mich bemühen, mein menschliches, organisches Dasein aufrecht zu halten und nicht zur metallischen Kreatur zu werden – auch und gerade  im Digitalzeitalter.

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