Kolumne, Press

Julias t3n-Kolumne: »Warum sich unsere Zeit immer surrealer anfühlt«

5 min read

Dieser Beitrag erschien in meiner Kolumne »diary of the digital age« in der t3n online am Sonntag, 6. März 2022. Hier auf t3n lesen :-)

Das typischste Zeitgefühl des Digitalzeitalters: Wie im schlechten Film. Julia Peglow aka jpeg liefert Erklärungsmodelle und Denkanstöße, wie wir mit dem Irrsinn unserer Zeit klarkommen können.

Julia Peglows Tisch ist voller Bücher – und Notizbücher

Als Trump 2016 Präsident wurde, als 2020 die Corona-Krise über uns hereinbrach, während der Flutkatastrophe im Sommer 2021 im Westen Deutschlands und jetzt, 2022, der furchtbare Krieg in der Ukraine – erneut werden wir Zeugen zunehmend surrealer Ereignisse, die uns mit einem hilflosen Gefühl zurücklassen: Wir können nicht glauben, dass das alles Wirklichkeit ist. Dass das Leben sich immer mehr anfühlt, als würden alle schlechten Hollywood-Filme, die wir in den letzten Jahren gesehen haben, wahr werden. Das Szenario einer weltweiten Pandemie? Kennen wir aus „Outbreak“ mit Dustin Hofmann, ach ja, und aus „Twelve Monkeys“ mit Brad Pitt und Bruce Willis. Die Welt geht an der Klimaerwärmung zugrunde? Roland Emmerichs „The Day After Tomorrow“. Ein irrer Diktator, der die Welt mit seinen Atomwaffen erpresst? Kennen wir auch schon, aus „James Bond 007 – Never Say Never Again“. Das soll nicht zynisch klingen. Ich sehe die Bilder vom Krieg in der Ukraine, von zerbombten Häusern und Städten, von fliehenden Familien. Es ist unerträglich. Meine Solidarität gilt all denen, die gerade großes Leid erfahren, meine Unterstützung denen, die helfen. Aber ich frage mich insgeheim die ganze Zeit: Was ist bloß los in der Welt?

Ich möchte mich heute hier genau diesem Gefühl widmen, das ich selbst, und mit mir meine Zeitgenoss:innen immer häufiger erleben und das nicht mehr abzureißen scheint: Das Gefühl, dass sich die Realität zunehmend surreal anfühlt. Wir werden uns dran gewöhnen müssen. Weil ich glaube, dass es ein ganz typisches Zeitgefühl ist – das Zeitgefühl des Digitalzeitalters. Ich mache mir ein wenig Sorgen, weil viele um mich herum wund gescheuert sind nach zwei Jahren Pandemie. Ich bin überzeugt, dass wir eine tröstliche Perspektive brauchen, die uns hilft zu verstehen, was vor sich geht. Deshalb hier ein Erklärungsversuch.

Realität und Story

Wir leben in einem Zeitalter gespaltener Realitäten. Das liegt zum einen daran, dass es im Digitalzeitalter immer zwei Ebenen der Realität gibt: eine echte Welt. Und eine digitale. Alles, was in der echten Welt geschieht, besitzt einen digitalen Zwilling; sogar ein Krieg in Europa, der ebenso heftig im Netz tobt. Wir Internetkinder meinen, ganz routiniert damit umzugehen. Aber es ist eben auch verwirrend. Weil wir uns manchmal untereinander nicht mehr so ganz einig sind, welche der beiden Welten nun denn die eigentliche Realität darstellt – spätestens da, wo Handlungen in der echten Welt nur noch stattfinden, um im digitalen Raum Hype zu erzeugen. Spätestens da, wo Algorithmen am Werk sind, deren Daseinszweck ist, die Realität zu verzerren.

Wir kriegen das einfach nicht mehr zusammen: Wir beobachten die großen Katastrophen vor allem aus der Ferne, in den News, in Social Media, vielleicht auch noch im Fernsehen – unser bitterer Initiationsritus und der Auftakt für die neue Zeit war der 11. September 2001, ein seltsam abstraktes, fast schon ikonisches Fernsehereignis. Wir kriegen das nicht mehr zusammen mit unserem Leben, das uns umgibt. Diese Themen, die wir oft in den Medien erleben, sind zu groß für uns zu begreifen. In unserem Organismus und von unserer Machart sind wir ja immernoch die selben Steinzeitmenschen – dazu ausgestattet, in Herden von zwanzig zu leben und uns ab und zu mit den Nachbarn zu prügeln. Mein Rat lautet in diesen Zeiten, tatsächlich einen Blick auf den eigenen News-Konsum zu werfen – klar will man in diesen Tagen, wo sich die Ereignisse stündlich überschlagen, auf dem Laufenden sein. Aber hundert Mal am Tag zum Smartphone zu greifen und jeden Newsfetzen in sich aufzusaugen, ist auf Dauer wirklich nicht gesund. 

In der Welt der Schwarzen Schwäne

Erst in meiner letzten Kolumne vor einem Monat habe ich von Schwarzen Schwänen erzählt – diesen höchst unwahrscheinlichen Ereignissen, die niemand prognostizieren kann, und die uns, eben weil niemand mit ihnen gerechnet hat, oft unvorbereitet treffen; und die schockartige, systemische Umwälzungen nach sich ziehen. Und natürlich hätte auch ich, als ich das schrieb, nicht damit gerechnet, dass der nächste Schwarze Schwan schon vor der Tür steht. Was aber ist der Grund, dass Schwarze Schwäne in unserer Zeit sich immer häufiger ereignen? 

Dies liegt daran, dass die Welt schon lange nicht mehr nur in ihrem eigenen, natürlichen Biorhythmus schwingt, dem der Mensch Jahrtausende lang unterworfen war – den Gezeiten, dem Wetter und dem Wechsel der Jahreszeiten. Sondern dass der Mensch die Welt seit Anbeginn der Moderne mit menschengemachten Systemen überzogen hat, die supervernetzt, nicht linear, sondern exponentiell funktionieren, aber dadurch auch extrem fragil sind: politische Systeme, weltweite Warenströme, vernetzte Finanzmärkte, Kommunikation und Medien, das Internet. Der Autor Nassim Taleb entwirft daraus ein Welterklärungsmodell, das er „Incerto“ nennt – das nicht auf Gewissheiten der Naturwissenschaften, sondern im Gegenteil, auf der Ungewissheit basiert. Er gibt uns den Rat, uns nicht der Illusion hinzugeben, irgendetwas prognostizieren oder berechnen zu können (was das Silicon Valley Mantra „If you can measure it you can improve it“ ad absurdum führt). Im Gegenteil, wir haben nur eine Wahl: uns dem Incerto, dem Chaos zu öffnen, uns von Gewissheiten zu verabschieden; oder auch nur, auf unsere kleines Leben gemünzt, nicht immer alles planen zu wollen, sondern dem Zufall eine Chance zu geben.

Kollektiver Zustand der Verwirrung 

Ein Symptom, wenn diese oft beängstigenden, surrealen Meta-Ereignisse über uns hereinbrechen, ist, dass wir sie schier nicht glauben können, von einem Zustand der Verwirrung und Desorientierung erzählen mir die Leute um mich herum; dass sie in den ersten Tagen Mühe hatten, sich zu konzentrieren. So ging es mir auch. Die Erklärung für das Verwirrungsgefühl dafür ist, dass die Wirklichkeit um uns herum menschengemacht ist. Wir konstruieren sie selbst permanent, wie als ob wir einen Teppich weben, oder ein Narrativ spinnen; in unserem kleinen Leben, aber auch als gigantisches, kollektives Gemeinschafts- und Gesellschaftsprojekt. Alles, was wir wissen, denken und tun, ist immer in diesen Kontext der Wirklichkeit eingebettet. Durch Schockereignisse, als die Pandemie innerhalb weniger Tage unser Leben stilllegte oder als wir aufwachten und auf einmal war Krieg in Europa, gerät unsere eigene Wirklichkeit ins Wanken; wenn ein größerer Erzählstrang, ein Meta-Narrativ, mit großer Wucht unser aller kleine Lebensgeschichte überschreibt und alles hinwegfegt, was wir gerade planten, wollten, für wichtig hielten. Und es wird eben eine Weile dauern, bis wir alle unsere Geschichten umgeschrieben haben. Bobette Buster, Autorin, Dozentin und begnadete Storytellerin, schreibt dazu in ihrem Buch „Do Story“, „that we must all learn to recognise the power of the meta-narrative being played out in our lives, and that at some key moment we will be called upon to ‚let go‘ and allow ourselves to be transformed.“

Mir geben diese Perspektivwechsel und Denkansätze Trost – weil sie mir die Möglichkeit geben, unsere Zeit irgendwie zu verstehen und einzuordnen. Diese verrückte, verworrene Zeit – das Digitalzeitalter. Ich finde sie in Gesprächen, aber auch oft in Büchern – deshalb unten wieder meine »Good Reads«. Peace.

Julias Kolumne »diary of the digital age« 

Den ganzen Tag sind wir mit Incoming Mails, Slack-Threads, Tickets und Push-Notifications beschäftigt – haben wir überhaupt noch Zeit, einen sinnvollen Gedanken zu Ende zu denken? Ich denke, das ist genau das, was uns im Digitalzeitalter manchmal abgeht: das große Bild. Eine andere Ebene der Betrachtung, jenseits der Technologie, jenseits des Hypes: Was bedeutet die Digitalisierung für unsere Zusammenarbeit, unsere Kreativität, unser Leben? Genau um diese Fragen soll es in meiner neuen t3n-Kolumne »diary of the digital age« gehen. Trotz Blogging und ausgeprägter Internetsucht finde ich immer noch viele Antworten nicht im Netz – sondern in Büchern. Deshalb gibt’s zu meiner Kolumne auch immer einige Tipps für Good Reads.

Good Reads, empfohlen von jpeg

Ein mind-blowing Klassiker der neuen Soziologie aus den 1960er Jahren: Peter L. Berger und Thomas Luckmann, „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“

Über die menschlichen Ambitionen, sich den Planeten Untertan zu machen: Yuval Harari, „Homo Deus“

Über die Kraft, die darin liegt, das eigene Narrativ zu schreiben: Babette Buster, „Do Story“