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Julias t3n-Kolumne: »Gesampelte Gefühle im Bann der Blockbuster-Algorithmen«

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Dieser Beitrag erschien in meiner Kolumne »diary of the digital age« in der t3n online am Sonntag, 3. Juli 2022. Hier auf t3n lesen :-)

Führen das Internet und die Algorithmen im Digitalzeitalter zwangsweise in den globalen Mainstream? Dazu, dass die Vielfalt auf der Strecke bleibt? Julia Peglow aka jpeg über das letzte Abenteuer des Digitalzeitalters.

Liebes digitales Tagebuch, ich erzähle dir jetzt mal von Phänomenen, die ich scheinbar unabhängig voneinander überall beobachte – und doch glaube ich, dass sie alle in einem geheimnisvollen Zusammenhang mit der Zeit stehen, in der wir leben: das Digitalzeitalter. 

Warum fristet die Leberkassemmel zunehmend ein fettiges Schattendasein, während an jeder Ecke der Stadt ein Pokebowl-Laden mit den immer gleichen türkis glasierten Keramikschüsseln aus dem Boden schießt? Warum gleichen sich Coffee Shops und Barber Shops überall auf diesem Planeten, egal ob in Berlin, Buenos Aires, Bonn oder Barcelona, genauso wie Corporate Designs für Start-Ups, Packaging Design für Craft Beer oder User Interface Design für Apps oder Fahrzeuge?

Kann es sein, dass der digitale Raum, der uns doch so viel Vielfalt beschert, und jeder noch so abgefahrenen Community eine Heimat bietet, gleichzeitig für immer mehr Eintönigkeit und Gleichförmigkeit, ja, eine neue Ebene der Super-Standardisierung, sorgt? Woran liegt das? 

Blockbuster-Algorithmen

Egal, ob bei Amazon, Google, Netflix – es sind die Maximen der mächtigen Plattform-Algorithmen, die das Netz zu dem machen, was es heute ist: das am meisten geklickte rankt am höchsten (weswegen es in der Folge noch öfter geklickt wird). Die einzige Richtschnur unserer Kaufentscheidungen scheint der Amazon-Algorithmus zu sein: Wir kaufen das, was die meisten anderen vor uns gekauft haben. An diesem Ort, der einstmals bevölkert war von Hippie-Idealen von freiem Wissen und der Idee des Gegenentwurfs zum Kapitalismus, ist es mittlerweile vor allem der Mainstream, was es dort zu kaufen gibt. Das ist wie bei Netflix: die Blockbuster ranken am höchsten.

Diese sich selbst verstärkenden Kreisläufe haben natürlich dazu geführt, dass uns die Vielfalt im Netz etwas abhanden gekommen ist; die Nische, das Kuratierte, das Leise, das Feine, das Quirkige. Es ist ja alles da, im Netz. Aber halt verborgen, solange es nicht von den großen Schleppnetzen der Mainstream-Algorithmen an die Oberfläche geholt wird. Solange finden nur diejenigen etwas besonderes, die danach suchen. Die Gold Digger.

Dabei könnte die Maxime der Algorithmen ja auch eine ganz andere sein. Ich frage mich schon lange, warum ich bei meinem Navi nur die schnellste oder die ökologischste Route, aber nicht die schönste Route auswählen kann. Und auch für den Amazon-Algorithmus gibt es Alternativen, an die wir zu lange einfach nicht gedacht haben: So erstellt der Algorithmus des Buch-Start-Ups Read-O seine Auswahl nach den Gefühlen, die Leser:innen beim Lesen des Buchs hatten (indem er deren Rezensionen auswertet). Verspricht das nicht eine schöne Welt? Algorithmen könnten nach ganz anderen Maximen agieren, zum Beispiel einen eingebauten »10%-unknown-creator«-Tribut-Faktor mit einberechnen – statt nur Blockbuster nach oben zu spülen. Stell dir vor, Algorithmen würden nach kreativem Shuffle oder Zufalls-Modus, oder nach geistiger Horizonterweiterung auswählen! Das würde die immer breiter werdende Sedimentschicht des Mainstream aufbrechen. Das würde die Vielfalt im Netz zurückbringen.

Sampling statt Kreativität

Aber, liebes Tagebuch, dieser eigenartige Effekt, dass das Internet und das Digitalzeitalter dazu geführt haben, dass alles überall immer nur noch gleich aussieht, setzt ja schon viel früher an. Nicht erst an der Stelle in der Wertschöpfungskette, an der die Algorithmen Produkte ausspielen und brave Konsument:innen sie kaufen. Sondern bereits da, wo Produkte und Marken kreiert und entwickelt werden – im Design und der Kreativbranche zum Beispiel, meiner eigenen beruflichen Welt. 

Auch hier ist mir im Laufe der Jahre eine eigenartige Entwicklung aufgefallen.  Früher hat es im Produkt-, Industrie- und Kommunikationsdesign, in Architektur, Film und Fotografie richtiggehende Ikonen gegeben, die berühmt für ihre einzigartige Denkweise und ihren Entwurf waren: Otl Aicher, April Greiman, Dieter Rahms, Barbara Stauffacher Solomon, Peter Behrens. Irgendwann, ganz langsam, sind diese alten Granden alle verschwunden.

An ihre Stelle ist der Schwarm getreten. Der Schwarm hat eine ganz andere Arbeitsweise. Er ist global – und lebt im Netz, auf Seiten wie Instagram, Pinterest oder 99Designs. Der Entwurf ist nicht mehr etwas, was Designer:innen offline anfertigen, aus einer Idee in ihrem Kopf, im stillen Kämmerlein. Der Entwurf passiert online: Designer:innen speisen Ideen in den riesigen, kollektiven Bilderpool ein und suchen wiederum im gleichen Bilderpool nach Ideen. Sie beginnen den Kreativprozess, indem sie googeln, downloaden, sharen und pinnen. Sie machen die Tür weit auf und die kollektiven Bildwelten des Internets zu ihrem Ausgangspunkt, sie greifen auf das zurück, was die globale Designcommunity vor ihnen schon mal gedacht und gemacht hat. 

Kreativität ist also weniger ein Akt des Erfindens, sondern des Samplings geworden. Sampling hat, in der Popkultur genauso wie im Digitalzeitalter, die originäre Idee abgelöst. Ich habe es miterlebt – wann hat das genau angefangen? Mit dem Internet? Haben die DJs und der Hip-Hop mit ihrem Sampling und Scratching damit zu tun? Oder sind sie nur eine weitere Erscheinungsform desselben Phänomens? 

Wenn der Schwarm sampelt, wenn das gleiche Material immer und immer wieder neu aufbereitet wird, ist auch hier ein mächtiger, gleichmacherischer Algorithmus am Werk. Das Ergebnis ist, dass über kurz oder lang alles irgendwie gleich aussieht – global mainstream design. Und das alles, weil der vernetzte, globale Designschwarm eben teilt, pinnt und sampelt; das ist die kreative, kollektive Arbeitsweise des Digitalzeitalters – in der vernetzten, digitalen Öffentlichkeit. 

Aber ist es so überhaupt noch möglich, dass der Einzelne aus sich heraus eine originäre Idee kreiert? Ist das gar das Ende der altmodisch hergestellten, nämlich von einem Gehirn ausgedachten Idee? Kann dann nicht auch bald Künstliche Intelligenz den Kreativprozess viel effizienter durchführen und damit den Job des Kreativen übernehmen? Haben sich also die Kreativen mit ihrem gesampelten, kollektiven Kreativprozess bald selbst abgeschafft? Kann der Schwarm überhaupt etwas Neues hervorbringen? Ist Kreativität im Internet möglich? Und was können wir tun, um die großen, gleichmacherischen Kräfte aufzubrechen – und organische Vielfalt zu ermöglichen?

Gestanzte Menschen, gestanzte Gefühle 

Weißt du liebes Tagebuch, die großen Algorithmen, die immer gleiche Blockbuster-Produkte in den Markt treiben, und der Schwarm der Creators, die samplen statt etwas neues zu kreieren – all das erklärt ein Stück weit, mit welchen Dingen und Produkten wir uns umgeben. Aber fällt dir auf, dass sich auch die Menschen und ihre Gefühlsreaktionen immer mehr anzugleichen scheinen? Hast du nicht auch das Gefühl, dass auf den Straßen immer mehr Instagram-Gesichter herumlaufen, die alle gleich aussehen: die gleichen dicken, super-scharf umrissenen Brows, die gleichen verlängerten Wimpern, die gleichen Haare, Eyeliner, glossy Lips?

Aber nicht nur wie sie aussehen, auch wie sie sich verhalten, scheint sich auf dem ganzen Planeten immer mehr anzugleichen. Die standardisierte, gestanzte Gefühlsreaktion für Freude und Begeisterung scheint länder-, kultur- und altersübergreifend, auf TikTok, Insta, Youtube und in der echten Welt dem Moment zu gleichen, wenn die Models in die GNTM-Modelvilla einziehen: Hände vors Gesicht schlagen und in hoher Tonlage »Ohmygoooood!!!« schreien. 

Kollektive Gefühlslage

Jedes Jahr veröffentlicht das Unicode Consortium, die Instanz, die den Unicode-Standard, also das Verzeichnis elektronischer Schriften, entwickelt und publiziert, die am meisten genutzten Emojis auf diesem Planeten. Spitzenreiter ist mit Abstand  seit Jahren das Emoji »Tears of Joy« – entspricht das der kollektiven Gefühlslage der Menschheit? Die zehn am meisten verwendeten Emojis weltweit sind 😂 ❤️ 🤣 👍😭 🙏 😘 🥰 😍 😊. Zehn Zeichen, um die ganze Kompliziertheit menschlicher Gefühle und des eigenen Seelenlebens zu beschreiben?

Der Mensch ist schwach, er lässt sich so leicht formen, da er ein permanenter Spiegel seiner Umgebung ist. So lernen Kinder die Welt verstehen: sie ahmen nach, was man ihnen vormacht. Bei den vielen Stunden, die wir und übrigens auch unsere eigenen Kinder, online verbringen, ist es ein Wunder, dass wir größtenteils im Netz sozialisiert werden?

Langsam wird mir klar, wie weit diese großen, gleichmacherischen Kräfte des Digitalzeitalters reichen. Wie tief sie in unser Leben, ja, in unser Menschsein vordringen. In welcher Größenordnung alles Menschliche in feine, kristalline Strukturen zerlegt und gleichgeschaltet werden kann. Unsere Beziehungen und Freundschaften sind schon lange digitalisiert – durch Social Networks. Unsere Gefühle sind durch gestanzte Emoji-Kategorien digitalisiert und somit trackable – wie geht es weiter? Kommen als nächstes unsere Gedanken, Erinnerungen und Träume an die Reihe?

Wildnis des Digitalzeitalters

Liebes digitales Tagebuch, weißt du was? Ich werd jetzt etwas ganz verrücktes tun: Ich suche die letzten Abenteuer des Digitalzeitalters. Ich geh’ zu Fuß los, immer der Nase nach. Ich setze meine Segel, in die Richtung, in die der Wind mich trägt. Ich lass’ mich durch die Stadt treiben, dorthin, wo ich keine digitale Datenspur hinterlasse. Ich setze mich in ein Café und stecke meine Nase in ein Buch – der letzte private Ort, an dem Media Content nicht trackable ist. Ich geh’ dorthin, wo es keine Cookie-Banner gibt, wo kein Algorithmus mir Kaufempfehlungen macht und mir keine Anzeigen auf Schritt und Tritt folgen, weil ich eine Sache zu lange angeschaut habe: auf den Flohmarkt.

Dort schaue ich mir lauter sinnlose alte Dinge an und bring meinen Kindern das erstbeste mit, was mir unter die Nase kommt – so wie Aschenbrödel aus »Drei Nüsse für Aschenbrödel« dem treuen Knecht Vinzek aufgetragen hat – nur so kann man Zaubernüsse finden! Ich mache mich auf die Suche nach den letzten unbestellten Biotopen des Digitalzeitalters, die letzte, verbliebene Wildnis auf diesem Planeten – die Räume, wo noch Spontanität und Zufall herrschen.

Good Reads

  • Ein sehr aufschlussreiches Buch über die urmenschlichen Algorithmen – unsere Gewohnheiten – und wie man sie umprogrammieren kann: Gretchen Rubin, »Better than before – Mastering the Habits of Our Everyday Lives«
  • Ein wegweisender Blogbeitrag, der das Phänomen des Durchschnittlichkeit im Digitalzeitalter auf den Punkt bringt: »The Premium Mediocre Life of Maya Millennial«, Venkatesh Rao auf ribbonfarm.com (2017)
  • Von einem der auszog, um die Wildnis zu finden: Jon Krakauer, »Into the wild«