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Julias t3n-Kolumne: »Emoji-Liebe und das Gefängnis der binären Denkmuster«

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Dieser Beitrag erschien in meiner Kolumne »diary of the digital age« in der t3n online am Sonntag, 3. April 2022. Hier auf t3n lesen :-)

Die Beta-Version als Normalzustand, ein entschiedenes »sowohl/als auch« statt »entweder/oder« – Julia Peglow aka jpeg über das Binär-Paradoxon im Digitalzeitalter.

Liebes digitales Diary,

manchmal verstehe ich unsere Zeit einfach nicht. Sie ist so rätselhaft! Egal, um welches Digital-Thema meine Gedanken kreisen, es gibt nie eindeutige Antworten. Im Gegenteil, es passieren immer völlig gegensätzliche Dinge gleichzeitig, und man kann mit Fug und Recht behaupten, dass beides zu 100% stimmt.

So wie bei der Sache mit dem binären Denken: Kann es sein, dass sich im Digitalzeitalter unser altes, binäres Denken auflöst? Kann es sein, dass das Digitalzeitalter unser binäres Denken verstärkt? Und kann es sein, dass beides gleichzeitig passiert??

Das schöne Narrativ des Digitalzeitalters

Erstmal zur hellen Seite – das schöne Narrativ des Digitalzeitalters. Dass wir in einer Zeit leben, in der wir uns von alten, binären, allzu simplen Denkmustern verabschieden können. Dass unser Denken toleranter wird, sich alte Hierarchien im Wissens- und New Work-Zeitalter genauso auflösen wie überkommenes, zu einfach gedachtes Schwarz-Weiß-Denken. Funktionierte die alte Welt noch in Kategorien wie „oben / unten“, „Anfang / Ende“, „richtig / falsch“, so haben wir im Real Time-Zeitalter der Gleichzeitigkeit verstanden, dass der Algorithmus unserer Entscheidungen nicht mehr „entweder / oder“, sondern „sowohl / als auch“, bzw. „alles gleichzeitig“ ist.

Das liegt wahrscheinlich daran, dass der kostbarste Rohstoff unserer Zeit nicht mehr das Öl, sondern ein Stoff ähnlicher Viskosität und Fließgeschwindigkeit ist: Daten. Daten leaken ebenso leicht, wie sie sich ohne Qualitätsverlust millionenfach vervielfältigen und in Sekundenbruchteilen über den gesamten Erdball verbreiten lassen. Das hat auch eine Auswirkung auf die Dinge, die uns umgeben: Stand im alten Industriezeitalter am Ende des industriellen Herstellungsprozesses noch ein fertiges, in sich abgeschlossenes Produkt, so ist es heute nicht mehr so eindeutig zu definieren, wo im digitalen Ökosystem ein Produkt endet und das nächste anfängt, oder wo überhaupt das Produkt endet und der User anfängt.

Der Modus unserer Zeit lässt sich nicht mehr streng in vertikal abgeriegelte Silos teilen, vielmehr fließt er dahin in einem horizontal strömenden Flow (ein Begriff und ein Zustand, den übrigens Mihály Csíkszentmihályi schon 1975 beschrieb). Denn unsere Zeit, das Digitalzeitalter, hat eine ganz neue Logik, eine ganz neue, körperlose Anwendung von Wissen hervorgebracht: Software. Software ist nicht an physische Gesetze gebunden. Sie besteht aus flüssigem Wissen, das sich als Daten in Kreisläufen weiterentwickelt. Vielleicht aufgrund dieser Eigenschaften ist Software niemals fertig. Und weil sie niemals fertig ist, ergibt sich dadurch eine ganz neue Taktung, ein neuer Rhythmus, der die alte, binäre Idee von Anfang und Ende ablöst. Und dieser Rhythmus, in dem das Herz der Software schlägt, heißt: Continuous Improvement. Das bedeutet: Software wird durch Updates weiterentwickelt, wie ein niemals enden wollender Strom werden stetig Leistung, Funktion, Kompabilität und Umfang verbessert. Dieser Strom ist so stark, die Logik von Software durchdringt immer mehr Bereiche der Welt, die uns umgibt, dass sie begonnen hat, auf unsere Denkweise überzugehen.

Die Beta-Version ist der Normalzustand

Ein Gehirn, das in der neuen Logik von Software funktioniert, denkt in den Kategorien des Prozesses: Nichts ist jemals fertig, die Beta-Version ist der Normalzustand. Ein Gehirn, das in Conti­nuous Improvement denkt, nimmt sozusagen Veränderung und Imperfektion als die einzige Konstante wahr – ansonsten gibt es keine unveränderlichen Parameter in seiner Berechnung der Welt. Es plant nicht weit im Voraus, denn es glaubt nicht daran, dass die Welt mittels langfristiger strategischer Planung oder Entscheidungen in den Griff zu kriegen sei – dafür ändert sich alles viel zu schnell. Es entscheidet permanent auf Sicht, on the fly und im Trial & Error-Modus, probiert durch Prototyping Dinge aus, verfolgt sie weiter – oder verwirft sie.

Das Continuous Improvement eröffnet eine ganz neue Art, mit der Welt umzugehen: Viele Tausend winzige Schritte, statt ein alles überschattendes, ultimatives Ziel, das man niemals erreichen kann. Viele kleine, schnelle Richtungsänderungen, statt der gewichtigen, binären, lebensverändernden Entscheidungen, auf deren Schultern ein bleiernes Gewicht lastet: Richtig? Oder falsch?

Dies ist eine Befreiung von vielen alten Bürden, die noch durch unsere Elterngeneration auf unseren Schultern lasten: die Bürde, Entscheidungen um jeden Preis aufrechterhalten zu müssen. Die Bürde, Dinge zu Ende bringen zu müssen. Und die Bürde des Perfektionismus, der uns so oft wie ein bleischwerer Anker am spielerischen Experiment, am schnellen Ausprobieren und Testen hindert! Denn im Digitalzeitalter gilt ein neues Mantra: Now is better than perfect.

Die dunkle Seite des Digitalzeitalters

Merkwürdigerweise lässt sich eine ebenso schlüssige, diametral gegensätzliche These aufstellen: Die nämlich, dass sich im Digitalzeitalter unser binäres Denken verstärkt. Ist es ein Wunder? Immerhin besteht die ganze Computerei, zumindest, wie wir sie heute betreiben, ja auf einem Binärcode: 1 / 0. Wahr / falsch (es gibt ja schlaue Leute, die sagen, wir werden uns erst mit dem Quantencomputer vom binären Fluch befreien).

Und das, liebes digitales Diary, ist die weniger schöne Seite des Narrativs. Die, die mir vor allem in letzter Zeit immer mehr auffällt, und die ebenfalls, wie der Flow der Software, von dem ich dir oben erzählt habe, mehr und mehr von unserem Denken Besitz zu ergreifen scheint.

Das ganze fing ganz harmlos an, indem uns nämlich unsere digitalen Tools in unserer Kommunikation neue Möglichkeiten anboten, in Bildern zu kommunizieren, ohne viele Worte zu gebrauchen und unsere Gefühle zum Ausdruck zu bringen. „Thumbs up / Thumbs down“. „Like / Dislike“. In der Unternehmenshistorie von Facebook wird dieser Moment gefeiert wie ein Durchbruch der Menschheitsgeschichte: als Mark Zuckerberg den „Daumen“ erfand.

Während wir uns alle in den letzten Jahren daran gewöhnten, mit Emojis zu kommunizieren, blieb ein kleines, nagendes Bauchgefühl: Was passierte mit all den Gefühlsschattierungen, die in der Grauzone zwischen dem gehobenen und dem gesenkten Daumen liegen? Wo fanden die in der digitalen Kommunikation ihren Ausdruck? Aber schon waren wir hinfortgerissen von den vielen bunten, lustigen Zeichen; es machte einfach so viel Spaß, sie auszusuchen, ähnlich wie bei einem Besuch in einem Bonbonladen, wo man aus so transparenten Klappen mit Schaufeln bunte Gummischnüre und Schaumgummi-Candy in Papiertüten schaufelt.

Ganz viel LOVE. Und ganz viel HATE

Mit der Zeit wurden diese binären, großen Strömungen im Netz stärker, sie kristallisierten sich immer klarer heraus: Da war ganz viel LOVE, keine Frage. Wir überschütteten uns mit Herz-Emojis, und das nicht nur zum Valentinstag, sondern auch im Business-Meeting – es scheint, als ob im digitalen Raum die Kategorien der alten Welt nicht zählen: there’s love in the air everywhere! Aber auf der anderen Seite gab es auch immer mehr HATE, und selbstverständlich auch dafür die passenden Emojis, um den Hass zum Ausdruck zu bringen, in die Kostüme Wut, Ekel und Empörung gekleidet. 2017 fing das ganze an, zu kippen: 39 Prozent aller Internetnutzer berichten über Bullying, Hass und Einschüchterung im Netz, vor allem Frauen, People of Colour und Mitglieder der LGBT+-Community.

Und langsam drangen auch Gerüchte aus dem Innenleben des Facebook-Algorithmus nach draußen: dass er nämlich Posts, die mit negativen Emojis getaggt sind, fünfmal so hoch im Feed rankt wie positive Posts, weil das erfahrungsgemäß zu mehr Traffic auf der Plattform führt, mehr Klicks, mehr Engagement. Hate-Content ist also Thumbs-Up, Love-Content Thumbs-Down? Das ist ja in sich verschachtelt doppelt binär! Sind Emojis also am Ende nur dazu da, unseren Content zu taggen, so dass der Algorithmus ihn gezielt ranken und ausspielen kann? Und wir begeben uns bereitwillig in diese vorgestanzten Gefühlsschablonen, und vergessen dabei all die Grauschattierungen, Verwirrungen, unklaren Bauchgefühle, die wir als Menschen eben eigentlich die meiste Zeit empfinden, während die Gefühlsschere immer weiter aufgeht und die Spaltung immer mehr voranschreitet?

Liebes digitales Diary, irgendwie habe ich in letzter Zeit das Gefühl, dass die binären Denkmuster der digitalen Welt immer mehr auf uns, unsere Gefühle, auf unsere Denkweise, aber auch unseren gesellschaftlichen Diskurs überschwappen. Fällt dir eigentlich auf, dass unsere Debatten in letzter Zeit nur noch „Schwarz / Weiß“ kennen? Nur noch „Entweder /Oder“-Meinungen herausgehauen werden? Geimpft / Ungeimpft. Schwarz / Weiß. Us against them.

Liebes Digitalzeitalter, du ermöglichst uns so viel Befreiung von altem Denken. Und doch errichtest du auch, vielleicht ohne dass wir es richtig merken, neue Gefängnisse um uns herum. Dieser Widerspruch ist so typisch für dich! Dass beides gleichzeitig, parallel nebeneinander her existieren kann. Ein echtes „Sowohl / als auch“ – statt „Entweder / Oder“.