Kolumne, Press

Julias t3n-Kolumne: »Der Bildschirm als Nadelöhr zur Welt oder: der Resonanz-Selbsttest«

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Heute bündelt der Bildschirm sämtliche Bereiche unseres Lebens. Führt das dazu, dass wir den Zugriff auf die Welt verlieren? Julia Peglow aka »jpeg« über den Tag, als ihr auffiel, dass sie in die App statt in den Himmel schaute – und über einen Resonanz-Selbstversuch.

Liebes digitales Tagebuch,

gestern ist mir etwas komisches passiert. Es war ein einziger Moment, ein völlig alltäglicher Vorgang, der mir zeigte, dass etwas wirklich nicht mit mir stimmt. Dass ich etwas ändern muss. Es fing ganz harmlos an: Ich klappte meinen Laptop zu, um einen Spaziergang zu machen, und stand vor der offenen Tür vor dem Haus. Ich wollte nach dem Wetter sehen, um zu entscheiden welche Jacke ich anziehe, und weißt du wohin mein Blick ging? Nicht etwa in den Himmel! Sondern auf mein Smartphone! Ich war schockiert.

Die Flachheit der Welt

Liebes Tagebuch, ich weiß nicht, ob’s daran liegt, dass ich in diesem besonders grauen Februar die Sonne seit Tagen nicht gesehen habe, daran, dass ich von morgens bis spät in die Nacht am Computer sitze oder daran, dass seit Corona die Zeit irgendwie alle Konturen verloren hat. Aber mir kommt das Leben zur Zeit so entsetzlich flach vor.

Tagein, tagaus starre ich auf kleine, briefmarkengroße Gesichter im Zoom-Call mit geblurrten Hintergründen. Vor meinen Augen verschwimmt der bunte Patchwork-Flickenteppich meines digitalen Kalenders. Ich scrolle durch den Linkedin- Feed und irgendwelche Newsseiten auf meinem kleinen Smartphone-Bildschirm und fühle mich im Kopf so leer. Ich trainiere ein Konserven-Training mit meinem Peloton-Trainer Marc, er schaut in die Kamera und sagt »I’m with you«, aber ich weiß: Das ist nur eine Illusion.

Weißt du, liebes digitales Tagebuch, die neuesten Ergebnisse der Hirnforschung fördern immer wieder erstaunliches über die Neuroplastizität zu Tage – dass sich unsere Gehirne ständig verändern, je nachdem was wir tun. Manchmal habe ich den Eindruck, als ob meine Fähigkeit zum räumlichen Sehen irgendwie abgenommen hat, kann das sein?
Neulich, als ich nach einem langen Tag am Bildschirm mit der U-Bahn in die Stadt gefahren bin, kamen mir die Gesichter der Menschen um mich herum so übertrieben plastisch vor, sie hatten so viele Ausbuchtungen und Ausstülpungen, dass ich das ganze räumliche Ausmaß nicht recht begreifen konnte. Als ob man in zu grelles Licht schaut und geblendet ist. So kam’s mir vor! Und das erschreckendste ist, dass mit der fehlenden Plastizität der Welt auch meine Gefühlsamplitude zu verflachen scheint – ich fühle mich immer gleich, es gibt keine Ausschläge mehr, keine Traurigkeit, keine Freude, geschweige denn Enthusiasmus oder überbordende Energie! Man könnte meinen, die Erde sei eine Scheibe, und diese Scheibe ist nichts anderes als ein riesengroßer, hochauflösender Bildschirm, auf dem das Leben nur dargestellt wird – aber nicht mehr in Echt stattfindet!

UNSERE GESAMTE WELTBEZIEHUNG LÄUFT HEUTE ÜBER DEN BILDSCHIRM! Der Bildschirm ist das Nadelöhr, durch das wir mittlerweile in allen Lebensbereichen in Verbindung treten mit der Welt. Alles, alles, unser gesamter Kontakt zur Welt geht über flache, pixelige LCD-, OLED- Oberflächen oder Retina-Displays.

Glaubst du mir nicht? Überleg doch mal, was wir alles am Bildschirm machen: Arbeiten, kommunizieren, lernen, Freunde treffen, Sport treiben, Karten spielen, einkaufen, Zeitung lesen, bezahlen, Puls messen, Museen besuchen, navigieren, ins Fitnessstudio gehen, Reisen planen, Wohnungen besichtigen, Konzerte besuchen, unsere gesamten Musikstreams verwalten, Sex (soll’s geben), Kochrezepte lesen, Filme schauen, Brillen anprobieren, auf Konferenzen gehen, Türen aufschließen, Licht anschalten, unsere Zeit verwalten, flirten, der Liebe nachjagen, usw. usw. Ich schalte sogar das Licht an meinem E-Bike über eine App auf meinem Smartphone an, statt einen Schalter anzuknipsen. Und wenn ich meinen Mann frage, wo unser Sohn ist, sagt er, ich soll doch in die »Wo ist«-App auf meinem Smartphone schauen.

Eigentlich ist nicht die Frage, was wir heute am Bildschirm machen, eher ist die Frage, was nicht? Und jaja, liebes Tagebuch, ich weiß, der Tech Talk sagt, dass die Interfaces der Zukunft Voice, Gesten, und Implantate sein werden, aber das ändert nichts daran.

Wenn man sagt, der Mensch manifestiere sich durch seine Taten – was tue ich denn den ganzen Tag, in der physischen Welt? Wie trete ich mit der Welt in Interaktion? Die virtuelle Welt mag mir gigantische Räume des Metaverse simulieren, ich mag mannigfaltige menschliche Interaktionen erleben oder sogar meinen Körper wechseln, eine ganz andere sein, ein Avatar namens Cube Queen oder eine Influencerin namens Tijen – in der echten Welt bewege ich nur minimal meinen Zeigefinger auf dem Track Pad auf und ab, meine Augenbälle in ihren Höhlen auf einer Pixeloberfläche hin und her, meinen Mund im Call auf und zu. Mehr nicht.

Ist es ein Wunder, dass dies mein Zeitgefühl verschwimmen lässt? Mein räumliches Sehen verkümmert? Meine Gefühlsamplitude verflacht? Meine Social Awkwardness mich einholt? Mir ist klar geworden, liebes Tagebuch, wie technokratisch, utilitaristisch und mechanisch unser Umgang mit der Welt in den letzten Jahren geworden ist! Und dass ich etwas anderes brauche.

Der verschwommene Rand am Smartphone ist das Leben

Der Soziologe Hartmut Rosa schreibt in seinem sehr lesenswerten Buch »Resonanz« darüber, dass wir Menschen ins Schwingen geraten, wenn wir resonante Reibeflächen mit der Welt haben; dann entsteht ein »vibrierender Draht zwischen uns und der Welt«. Er nennt das eine Soziologie des guten Lebens, das ist das, was wir brauchen, um das Leben zu spüren. Dass es »im Leben um die Qualität der Weltbeziehung ankommt«; dafür findet er wunderschöne Wörter: Ob wir ein »responsives, elastisches, fluides, vielleicht sogar anschmiegsames«, ein »offenes, vibrierendes, atmendes« Weltverhältnis haben, oder ein »stummes, starres, sogar kaltes«. Das betrifft »unsere Beziehung zum Raum und zur Zeit, zu den Menschen und zu den Dingen, mit denen wir umgehen, und schließlich zu uns selbst, zu unserem Körper und unseren psychischen Dispositionen.«

Jeder Mensch muss dabei selbst herausfinden, wie er in eine resonante Weltbeziehung kommt, wie er die Saite in sich zum Klingen bringt, wie er sich verbindet mit anderen Menschen, mit seiner Umgebung, mit der Welt und den Dingen, die er liebt.

Liebes Tagebuch, einmal fand ich dazu passend ein schönes Zitat im Netz: »Den verschwommenen Rand um das Smartphone nennt man Leben.«

Ich habe beschlossen, dass ich etwas ändern muss. Ich habe einen Vorsatz für dieses noch junge Jahr: Ich brauche wieder mehr Resonanz mit dem Leben. Wer braucht schon »seamless experiences«, wenn wir dabei immer nur von einem Bildschirm an den nächsten weitergereicht werden? Und vergessen, dass es eine Welt da draußen gibt? Ich möchte mich nicht mehr mit Convenience- und Seamless-Märchen ködern lassen, die mir doch schlussendlich nur meine Daten aus der Tasche ziehen wollen. Ich will Dinge wieder umständlich machen! Ich will Reibungsfläche im Leben, ich will Brüche!

Mein Resonanz-Projekt

Hier in bester Susan Sontag Manier meine Liste der Dinge, die ich bislang re-engineered und rückabgewickelt habe, um Bereiche meines Lebens vom Bildschirm weg in eine resonante Weltbeziehung zurück zu verlagern:

  1. Zeitgefühl: Ich habe meine Apple Watch abgelegt, und es fühlt sich gut an. Ich möchte wieder auf mein Zeitgefühl vertrauen.
  2. Kino: Ich war im Kino! In einem wunderschönen, mit plüschigen roten Samtsesseln. Da schaue ich auf eine Leinwand statt auf einen Bildschirm, es sind Menschen mit Gefühlsregungen um mich herum, ohne Second Screen, und es gibt auch keinen Netflix Binge Watching- oder Recommendation-Algorithmus, der mir sofort den nächsten einspielt, wenn der Film zu Ende ist. Es ist so schön, dass ihr noch da seid, liebe Kinos! Ihr hattet bestimmt eine harte Zeit.
  3. Kalender: Ich traue es mich gar nicht zu sagen, aber ich habe mir einen Papierkalender gekauft. Ja! Das erste Mal seit siebzehn Jahren. Auf meinen digitalen Kalender werde ich zwar nicht ganz verzichten, aber ich merke doch, dass mein Gedächtnis besser funktioniert, auf Grund der bildhaften Vorstellung, die ich von meiner Kalenderwochen- Doppelseite habe.
  4. Geld: Ich zahle zwar nicht ausschließlich mit Bargeld. Das wäre wirklich anachronistisch. Aber statt die Pay-Funktion meiner Apple Watch oder meines Smartphones zu benutzen, krame ich jetzt an der Kasse umständlich in meiner Tasche herum, ziehe irgendwann meinen Geldbeutel heraus und fummle mühsam meine EC-und Kreditkarte aus meinem Geldbeutel, während die Menschen in der Schlange hinter mir sich ungeduldig räuspern. Und weißt du was? Ich genieße die Reibung! Geld ausgeben darf ja auch ruhig ein bisschen weh tun.
  5. Begegnungen: Ich treffe wieder gezielt Menschen in der echten Welt und vermeide Zoom. Letzte Woche bin ich in einen Zug gestiegen und vier Stunden nach Wien gefahren, um eine Geschäftspartnerin zu treffen. Und es war ein tolles Treffen! Ich habe mich in der Energie gebadet, die nur entsteht, wenn man Ideen in der echten Welt austauscht.
  6. Sport: Ich gehe jetzt mit meiner Schwester ins Fitnessstudio, statt Peloton-Trainings auf meinem Smartphone zu machen. Im Fitnessstudio ist laute Musik, eine große Spiegelwand, in der man sich und die anderen Menschen und den Trainer betrachten kann. Der Boden quietscht, die Menschen schwitzen. Eine wirklich interessante Neunzigerjahre-Erfahrung, ähnlich wie in Kaufhäuser gehen (wobei das ja schon eher eine Fünfziger Jahre-Erfahrung ist).
  7. News: Ich lese keine News am Bildschirm mehr, da neige ich sowieso zu Suchtverhalten, vor allem in Krisenzeiten. Stattdessen habe ich mir ein Print-Wochenendabo meiner Lieblingstageszeitung bestellt. Ich freu mich so sehr, wieder zum Briefkasten zu gehen!
  8. Schlüssel: Ich benutze statt der Nuki-App wieder einen echten Haustürschlüssel mit einem riesigen Pompom- schlüsselanhänger, den ich ebenso umständlich wie meine EC-Karten jedesmal aus meiner Handtasche krame, um die Haustür aufzusperren, und der mir jedesmal ein Lächeln auf die Lippen zaubert.

Liebes Tagebuch, auch wir beide müssen reden. Ich denke hart drüber nach, in ein echtes Geschäft zu gehen, in eine Papeterie, und mir ein hübsches, leinengebundenes Tagebuch zu kaufen …

Good Reads

Hartmut Rosa, »Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung«. Ein fast schon poetisch zu lesender Wissenschaftsklassiker. Anleitung zum guten Leben im Digitalzeitalter.

Anna-Lisa Dieter, »Susan Sontag«: Die berühmte New Yorker Essayistin war eine besessene Listenschreiberin; darüber, was sie mochte und nicht mochte, attraktive menschliche Eigenschaften oder wie man am besten einen Samstag verbringt.

Arno Geiger »Das glückliche Geheimnis«: Mehr Resonanz geht nicht. Über ein jahrelanges Doppelleben, das darin bestand in Wiener Altpapiertonnen zu tauchen.