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»Jede Generation ist betriebsblind« – Interview zu den »Internetkindern« in der W&V

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Dieses Interview erschien am 4. Oktober in der W&V+ online und am 7. Oktober in der W&V Printausgabe. Außerdem bin ich hier im Gespräch mit Chefredakteur Rolf Schröter im W&V Chefredaktionstalk (ca. ab Minute 42:00)

Interview: Conrad Breyer

In ihrem Buch »Wir Internetkinder« beschreibt die Designerin Julia Peglow das Leben einer Generation zwischen realer und virtueller Welt, die mit der Digitalisierung das freie Denken verlernt hat. Doch es gibt Hoffnung.

Julia out of office

Julia Peglow hat 20 Jahre für Branding- und UX-Agenturen gearbeitet.

Irgendwann hat Julia Peglow gemerkt: Da läuft was falsch. Aber was? Der ganz Hass im Netz, überall Fakes und warum kommt in unserem Business-Alltag, obwohl wir total digital arbeiten, immer so wenig mehr raus als ewig neue Meeting-Runden?

Dann hat die Designerin, die zwei Jahrzehnte in der Kreativ- und Digitalbranche tätig war, angefangen, ihren Blog „Diary of the Digital Age“ zu schreiben und verstanden: Die Funktionsweisen des Internet, die Kleinteiligkeit der digitalen Kommunikation, zerhackstücken unser kreatives Denkens: Wir reagieren nur noch, statt zu agieren. Dazu halten wir in Unternehmen an Strukturen fest, die noch aus dem Industriezeitalter stammen. In diesem System mit den technischen Mitteln von heute zu arbeiten, potenziert diese Fragmentierung noch.

Gefangen im Netz

Ihre Erkenntnisse hat Peglow jetzt in einem Buch zusammengefasst. „Wir Internetkinder“ ist ein Appell an das freie Denken. Dabei verteufelt die Autorin das Digitale nicht. „Dazu hat es uns viel zu viel Gutes gebracht.“ Julia Peglow geht es darum, zu verstehen, was die Digitalisierung für unser Dasein bedeutet und dass wir lernen, damit umzugehen. Sie beschreibt das anhand ihrer eigenen Biografie, damit die Leser:innen die Chance haben, ihr beim Denken zuzusehen und sie auf einer Reise begleiten, die sie auch spannend finden.

Wir Internetkinder, Foto: Verlag Hermann Schmidt

Ihr Leben, sagt Peglow, sei nur eines von vielen in dieser Generation der in den 70er Jahren Geborenen. „Wir stehen mit einem Bein in der analogen, mit dem anderen im digitalen Zeitalter.“ Ihre Altersgenoss:innen hätten es allerdings versäumt, die Digitalisierung in einem humanen Sinne zu gestalten. „Heute sind wir Gefangene einer Welt, die wir von Anfang an mitgetragen haben.“ Im Mittelpunkt müsse doch die Frage stehen: „Wie wollen wir leben?“

Frau Peglow, können wir den Kollaps noch aufhalten?

Keine Ahnung! Ich bin keine Weltuntergangsexpertin.

Dabei warnen Sie in Ihrem Buch »Wir Internetkinder« durchaus vor dystopischen Verhältnissen, sollten wir die Digitalisierung und ihre Folgen nicht in den Griff bekommen.

Sie steigen ja gleich tief ein. Aber klar, irgendwann kriegt das Buch diese Ebene. Eigentlich war der Anfang für mich aber viel kleiner. Irgendwann hat sich bei mir das Gefühl eingeschlichen, dass ich nicht mehr so richtig verstehe, was um mich herum passiert.

»Wir haben angefangen, den digitalen Raum als Freiraum zu begreifen, uns neu zu inszenieren.«

Und so habe ich angefangen, darüber nachzudenken, ganz subjektiv. Als ich darüber mit meinem Blog ‚Diary of the Digital Age‘ mit anderen in Austausch gegangen bin, habe ich festgestellt, dass es ganz vielen in meiner Generation so geht wie mir.

Das ist Ihnen 2017 auf einer Geschäftsreise nach Singapur aufgefallen, wie Sie im Buch beschreiben. Auf dem Flug denken Sie viel über Ihr bisheriges (Berufs-)leben nach. Ist das tatsächlich so passiert? Streckenweise klingt das wie in einem Roman.

Ich erzähle meine Geschichte, wie sie war. Im Endeffekt ist das auch gar nicht so wichtig, es ist eigentlich eine Art exemplarisches Leben in einer Generation, was so vielleicht hunderttausendfach stattgefunden hat, die Blaupause eines Lebens. Ich kriege Rückmeldungen von vielen Leuten, die sagen, sie hätten es ganz ähnlich erlebt. Das Einzige, was vielleicht so ein stilisierter Moment ist, ist der ‚Digital Switch‘ in Berlin 2000.

Die Partyszene, als im Berlin des Jahres 2000 die Medien der Hauptstadt über eine Bewegung namens »E-Popstars« berichten, die so gar nicht existierte. Sie hatten für Ihre Kolleg:innen bei MetaDesign T-Shirts mit dem Label drucken lassen und die haben den Journalist:innen aus Spaß irgendeine Geschichte aufgetischt.

Damals haben wir angefangen, den digitalen Raum als Freiraum zu begreifen, uns neu zu inszenieren.

Hier kommt es zum »Riss in der Wirklichkeit einer Generation«, wie es im Titel Ihres Buchs heißt: Die (virtuelle) Story wird wichtiger als die Realität. Aber das fing ja im Prinzip schon viel früher an, in Ihrem Studium an der Hochschule für Gestaltung in Schwäbisch Gmünd. Damals triumphiert das Digitale über das Analoge.

Richtig. Design war eines der ersten Metiers, wo durch die Software, die wir verwendet haben, diese virtuelle Welt kreiert wurde. Wir waren schnell dabei, das aufzusaugen, ohne genau zu begreifen, was wir da tun. Wozu eben die alte Garde, in dem Fall die Professorenriege, mit ihren ehernen Gesetzen der Gestaltung nicht mehr so viel zu sagen hatte.

Jede junge, hungrige Generation muss sich emanzipieren und ihr eigenes Ding machen. Uns ist einfach diese Gelegenheit vor die Füße gefallen, da hat sich auf einmal eine Welt aufgetan, die noch niemand definiert hatte. Und wir hatten das Gefühl, wir sind jetzt die Pioniere: Wir entdecken unbekanntes Land und können eine neue Welt errichten nach unseren Regeln.

Im Kapital über Ihre Zeit in London beschreiben Sie, wie sich dieser Riss zwischen alter und neuer Welt manifestiert.

In meinem Buch geht es mir auch darum, zu erzählen, wie sich eine bestimmte Zeit angefühlt hat. Wir reden oft von digitalen Tools: Immer ist die Rede von Social Media und vom iPhone und so weiter. Ich habe versucht, die Zeit zu beschreiben, als diese Dinge schon fast zum Greifen in der Luft lagen, aber eben noch nicht existierten.

Und ich will auch erzählen, dass die Technologie, die Tools auch aus einem tiefen Bedürfnis heraus entstanden sind. Wie oft habe ich mir gewünscht, dass es ein Gerät für alles gäbe. Ich hatte ja damals für alles was Eigenes: Handy, Kalender, Kamera, etc.

Stimmt, Ihre Pocketkamera, mit der Sie stundenlang quer durch London spaziert sind.

Als Designerin hatte ich viel mit Fotografen zu tun und dann habe ich selbst angefangen, Bilder zu machen. Die Kamera hat ja auch schon eigentlich ein Bedürfnis erfüllt, was da war, nämlich nicht mehr Fotografie in dem perfekten Augenblick zu inszenieren, sondern immer so nebenher laufen zu lassen und das eigene Leben zu dokumentieren, ungeschminkt, hässlich. Das hat Distanz zwischen mich und die Stadt gebracht, in der ich mich zum Teil wahnsinnig alleine gefühlt habe.

Das hat aber auch dazu geführt, dass man anfängt, sich selbst zu beobachten, dass man sich selber immer so wie eine Art Hauptdarsteller in einem Film wahrnimmt. Da ist schon dieser kollektive Riss, dass eine Generation anfängt, sich selber zu betrachten bei dem, was sie tut, was dann eben später in Berlin zu einer Inszenierung der Möglichkeiten wird. Aber es gab noch nicht die Tools, sich zu connecten und diese Erfahrungen zu teilen.

Bis 2007 das iPhone kam. Vorher allerdings, um die Jahrtausendwende, platzte noch die Dotcom-Blase. Da war ja offensichtlich, dass zwischen Story und Realität eine Lücke klafft.

Das war damals eine Atmosphäre, die war unglaublich gehypt. Und ja, dann kocht halt das Fieberthermometer hoch. Irgendwann konnten manche ihre Versprechen nicht mehr einlösen.

Bei Tesla funktioniert es heute.

Ja, Tesla pokert seit Jahren mit einer Story, die alle glauben. Niemand beherrscht das so meisterhaft wie Elon Musk. Das ist verrückt. Ich kann die Realität verändern, dadurch, dass ich die Geschichte einfach schon mal so erzähle, wie ich eigentlich gerne sein möchte. Wie eine ’self-fulfilling prophecy‘.

Fake it till you make it?

Ich meine das gar nicht negativ. Gemeint ist tatsächlich, dass man sich auch was zutraut, ohne dass man es hundertprozentig kann, weil man dann reinwächst. Das ist ein Thema, das mich extrem fasziniert.

Sie schreiben: „Als Generation suchten wir so händeringend nach Bedeutung. Wir wollten unsere Individualität zum Ausdruck bringen und doch Teil einer Community sein.“ Ist das was ganz Spezifisches, was Ihre Generation prägt?

Nein, das glaube ich nicht. Jede Generation sucht nach der eigenen Bedeutung. Aber das Besondere an unserer, dieser 70er-Jahre-Generation, ist ja eben zweierlei: Zum einen sind wir die, die gerade an den Hebeln sitzen.

Zum anderen stehen wir alle mit einem Bein in der analogen und mit dem anderen im digitalen Zeitalter. Das ist, denke ich, relativ einzigartig. Zu einem bestimmten Zeitpunkt haben wir uns die Frage stellen müssen: Wie gehe ich damit um? Ich bin da als Designerin reingeraten und wir hatten einfach das Gefühl, wir können diese Welt mitgestalten.

Aber Sie haben sie ja eben gerade nicht mitgestaltet, wie Sie es im Buch ausführen. Die Entwicklung hat Sie überrannt.

Es gibt da keine eindeutigen Täter- und Opferrollen. Wir waren von Anfang an mit dabei und irgendwann in einem Strudel, dass wir gar nicht gemerkt haben, dass andere die Superstrukturen erschaffen haben, in denen wir heute selber gefangen sind.

Fühlen Sie sich mitverantwortlich? Ich meine, gerade als UX-Designerin. Sie wissen ja, wie man die Nutzer:innen im System hält und zappeln lässt.

Na ja, klar. Mein Studiengang war der erste mit Schwerpunkt Neue Medien. Da gab es noch gar nichts, keinen Home-Button, kein Burger-Menü. Am Anfang ging es erstmal darum, einen unbekannten Raum zu erschließen, userfreundliche Prinzipien zu erfinden, um Leuten zu ermöglichen, sich in diesen Welten zu bewegen. Das hatte aber tatsächlich noch ein hehres demokratisches Ziel der Aufklärung und der Informationsvermittlung.

Irgendwann gab es so einen Punkt, wo sich diese Prinzipien ein Stück weit verselbstständigt haben. Es gibt diese Stelle im Buch, wo ich mein jüngeres Ich treffe…

…das fasziniert von den Möglichkeiten, die Photoshop bietet, all Ihre Warnungen vor einer Zukunft voller Fake-Bilder in den Wind schlägt.

Da sieht man ja, dass wir total betriebsblind waren und ich denke manchmal, da liegt auch die Tragik jeder Generation, dass man mit dem eigenen Leben immer so beschäftigt ist, dass man das große Bild nicht erkennt.

Später ist das Thema der Aufmerksamkeitsökonomie wichtiger geworden und man hat erkannt, dass man da Muster anwenden kann, die darauf aus sind, einen so lange wie möglich zu binden. Da ging es nicht mehr um Orientierung oder Information, sondern um Datenernte.

Der Tech-Pionier Jaron Lanier hat in seinem Buch „Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst beschrieben, was das für Folgen hat: Die „Bummer Machine“ Social Media, wie er sagt, spalte und zerstöre Gesellschaften, weil sie bevorzugt negative und Fake-News verbreite.

Ich möchte auch da ganz wertneutral als Forscherin mit einem kühlen Blick draufschauen: Es geht mir nicht darum, die Digitalisierung zu verteufeln, dafür hat sie uns auch viel zu viel Gutes gebracht.

»Es gibt viele Kräfte in dieser Welt, die ein Interesse daran haben, das menschliche Denken zu hacken.«

Zu sagen, das ist gut oder schlecht, richtig oder falsch, das sind alte binäre Denkweisen, die die Komplexität unserer Zeit nicht abbilden. Wir müssen verstehen: Was ist da eigentlich passiert und nach welchen Prinzipien funktioniert es? Und dann damit umgehen.

Was schlagen Sie also vor?

Im Grunde geht es mir ums selbstbestimmte Denken. Es gibt viele Kräfte in dieser Welt, die ein Interesse daran haben, das menschliche Denken oder kreative Prozesse zu hacken. Wir müssen uns dessen bewusst sein und dahin zurückkehren. Es geht also eigentlich auch um Freiheit.

Macht uns das Internet unfrei?

Das wäre mir wiederum zu düster. Aber die Probleme, vor denen wir global stehen, Klimawandel, Hunger, Migration, Armut, können wir nur lösen, wenn wir wieder zum selbstbestimmten, kreativen Denken kommen.

In Ihrem Buch kritisieren Sie die mangelnde Beweglichkeit von Unternehmen. Wie wollen Sie so die Welt retten?

Unsere Unternehmensstrukturen stammen vielfach noch aus dem Industriezeitalter, als man im Taylorismus angefangen hat, handwerkliche Prozesse in Prozessabschnitte zu unterteilen. So konnten Sie Produkte in Serie fertigen, das war mal sehr fortschrittlich. Wir arbeiten immer noch so, nur mit den technischen Möglichkeiten von heute.

Das bedeutet?

Totale Fragmentierung. Frühmorgens greifen Sie automatisch zum Smartphone, beantworten Text- oder Sprachnachrichten, klappen das Laptop auf, gucken in die Mails, arbeiten Ihren elektronischen Terminkalender ab. Das ist das Muster, dem wir den ganzen Tag folgen.

Wir vergessen dabei völlig, dass das vielleicht auch anders funktionieren könnte. Dass wir uns erst einmal selbst Gedanken machen. Es ist ein Unterschied, ob man aus sich heraus einen Gedanken entwickelt oder ob man nur noch reagiert auf das, was auf einen einströmt.

Deutschland ist durch diese Produktivitätssteigerung aber einst auch zu Wohlstand gekommen.

Absolut: Und das hat auch 100 Jahre gut funktioniert. Wir haben eine gutverdienende Mittelschicht kreiert, die unsere Gesellschaft stabilisiert. Wir befinden uns jetzt eben in einer langen Übergangszeit. Gerade in unserem Land, das stark von Industrie und Mittelstand geprägt ist, sind die Strukturen besonders hartnäckig. Seit den 60er Jahren gibt es allerdings auch schon Vordenker, die die Wissensgesellschaft als die neue Form des ökonomischen Handelns propagieren. Das heißt: Wir suchen schon lange nach einer neuen Blaupause.

Was bedeutet die Digitalisierung, wie Sie sie sehen, eigentlich für die Kreativität?

Es ist für mich eine Gretchenfrage: Gibt es überhaupt noch diesen originären Prozess, wo ich eine Idee produziere? Oder verlagern wir uns nicht eher in den datenbasierten algorithmisch gesteuerten Kreativitätsprozess? Sind wir überhaupt kreativ oder sampeln wir nur noch? Ich beobachte in der Design-Welt, dass über die Jahre so eine Art globaler Mainstream Style entstanden ist. Egal, ob du in Kopenhagen oder in Moskau in einen Coffeeshop gehst, es sieht alles gleich aus.

»Kreativität ist weniger ein Akt des Erfindens, sondern des Samplings geworden.«

Und es kommt eben daher, dass Designer den kreativen Prozess mittlerweile online gestalten, sie googeln, sharen und pinnen. Kreativität ist weniger ein Akt des Erfindens, sondern des Samplings geworden, es entsteht nichts mehr wahrhaft Originäres. Weil sich im Arbeitsalltag kein Moment mehr ergibt, wo sich jemand wirklich von sich aus etwas Neues überlegt. Und wenn nur noch gesampelt wird, könnte man sagen, kann es ja auch gleich ein Algorithmus machen, dann braucht man eigentlich gar keine Menschen mehr.

Ist das das Ende der Kreativagenturen?

Eigentlich schon. Vielleicht müssen sich Agenturen stärker auf ihre Rolle besinnen, dass sie diejenigen sein sollten, die kreieren, was die Unternehmen mit ihren starren, industrialisierten Strukturen brauchen, statt ihre Kreativität selbst im Kleinklein des fragmentierten Arbeitsalltags zu verlieren.

Oft spiegeln Agenturen eben die Strukturen ihrer Auftraggeber.

Meine Beobachtung ist schon, dass eine Agentur, wenn sie immer nur für andere denkt, eigentlich selbst innendrin ‚leer‘ ist. Interessant wird es dann, wenn sie Ideen oder Content hat, bevor sie ein anderer haben möchte. Also eben nicht reagieren mit einer Auftragsarbeit, sondern agieren und diese originäre Denkweise in der eigenen Agentur etablieren. Ich glaube, das könnte Begehrlichkeiten wecken.

Aber wie können wir freier denken?

Ich habe viel über das Verhältnis von Privacy und Publicity nachgedacht. Ich glaube, in unserer Zeit ist uns die Privatheit total abhanden gekommen. Da gibt es in Unternehmen und auch Agenturen oft gar kein Bewusstsein dafür. Wenn ich sage: Ich ziehe mich jetzt mal zurück, um über etwas nachzudenken, denken alle, ich gehe Kaffee trinken.

Ich meine aber: Die Tür zumachen, mich auf etwas konzentrieren, meine Gedanken sortieren und verschriftlichen. Erst dann kommt der Moment, wo der kreative Prozess es erfordert, diesen Gedanken in Austausch zu bringen. So arbeite ich persönlich inzwischen. Ich bestimme die Architektur meines Arbeitsalltags wieder selbst: Der Morgen gehört der Entwicklung neuer kreativer Projekte, am Nachmittag tausche ich mich aus. Das Feedback wiederum speist sich ins kreative Projekt, das ich dann am nächsten Tag weiterentwickeln kann; es entsteht ein Kreislauf.

Es wäre wichtig, dass dieser Prozess Eingang in die Unternehmenskultur findet. Dass man sagt: Bei uns ordnen wir alles der Wertschöpfung unter.

Ist das realistisch?

Ich treffe tatsächlich auf viele Firmenchefs, die im Tagesgeschäft gefangen sind und keine Möglichkeit haben, wirklich mal groß und innovativ zu denken. Ich würde sagen, eigentlich geht es da wirklich um eine Sinnsuche, darum, zu ergründen, worin die tiefere Bedeutung der eigenen Unternehmung im Kontext des digitalen Zeitalters steckt.

Aber werden einem Ideen in der eigenen Firma nicht am liebsten zerredet?

In der alten Welt ja. Was an den oben beschriebenen Unternehmensstrukturen liegt: Die erlauben ein Abweichen nicht, das ist nicht vorgesehen. Sofort kommen drei Gründe, warum das nicht geht und es passiert gar nichts.

»Denken wir in Prozessen, nicht in Produkten!«

Es braucht neue Prozesse, Meeting-Formate, die genau danach benannt sind, an welchem Punkt man jetzt zu welchem Zweck zusammenkommt. Das passt viel besser ins digitale Zeitalter, als nach Mustern der alten Industrie zu agieren.

Inwiefern passt das besser?

Einmal weil uns die digitalen Tools den Austausch ermöglichen, den wir – nach einer Phase des stillen Nachdenkens – für kreative Ideen brauchen. Und zum anderen – und das ist aus meiner Sicht zentral – weil uns das digitale Zeitalter gelehrt hat, dass es für den Kreativprozess besser ist, wenn wir in einer permanenten Beta-Version denken. Nichts ist fix, alles ist ständig im Fluss.

Wenn man es schafft, im Unternehmen einen solchen Wissenskreislauf zu etablieren, die Art und Weise der Zusammenkünfte und die Kommunikation zu regeln, denke ich schon, dass sich die Dinge für jeden einzelnen, aber auch für das Unternehmen und seine Innovationsfähigkeit auf jeden Fall zum Besseren wenden.

Julia Peglows Thesen

Kontraproduktivität der digitalen Tools

Wir erleben in unserem Arbeitsalltag dank einer Vielzahl an Kommunikations- und Arbeits-Tools eine Fragmentierung, die uns desorientiert und uns von unserer Arbeit entfremdet. Digitalisierung ist zum Selbstzweck geworden; wir können nicht mehr wertschöpfend produktiv werden. Wir sind Gefangene des Algorithmus.

Alte Strukturen + neue Tools = Culture Clash

Dazu kommen veraltete Strukturen in Unternehmen, die Planbarkeit und Sicherheit versprechen, aber in Wirklichkeit kreatives Denken und damit Innovationen verhindern. Wir arbeiten mit den Mitteln der Gegenwart in Strukturen des Industriezeitalters.

Philosophie des Machens

Denken, Reden, Machen liegen in unserer digitalen Arbeitswelt weit auseinander, getrennt durch Strukturen und Algorithmen. Denken wir in Prozessen, nicht in Produkten! Die einzige Konstante sind Veränderung und Imperfektion. Nichts lässt sich mehr langfristig planen, dafür ändert sich alles viel zu schnell. Auch hier stellt sich die Frage: Wie gehen wir damit um? Positiv formuliert: Rückkehr der Macher. Rückkehr zum selbstbestimmten Denken. Und Hinterfragen der eigenen Denkmuster.

Kluge Anwendung von Privacy und Publicity

Wir haben vergessen, dass der Mensch im echten Austausch miteinander, im Denken und Reflektieren darüber, was wir tun, erfolgreich geworden ist. Dennoch ist uns die Privacy in der Arbeitswelt abhanden gekommen: Jeder Mensch benötigt einen Denkraum, der nur ihm allein gehört, der nicht öffentlich ist. Und wir brauchen den Austausch mit der Außenwelt. Es ist ein Kreislauf.

Natürlicher Arbeitsrhythmus

Wir müssen zu neuen Wegen der Organisation und der Zusammenarbeit finden und dafür die Architektur unseres Alltags verändern, ihn selbstbestimmt gestalten. Mit Phasen von Arbeit, Muße und Gemeinschaft. Daten und Digitalisierung sollten dafür ein Mittel sein, nicht der Zweck.

Der Riss in der Wirklichkeit

Die einen denken digital, die anderen analog und manche wechseln zwischen beiden Welten hin und her. Das gilt für alle Generationen, jede:r ist zu einem bestimmten Punkt im eigenen Leben mit der Digitalisierung in Berührung gekommen. Ganz besonders gilt das aber für die Generation X – die Generation, die mit einem Bein im analogen und mit dem anderen im digitalen Zeitalter steht.

Verlust einer gemeinsamen Realität

Niemand spricht darüber, niemand benennt das Problem. Es herrscht eine babylonische Sprachverwirrung: Wir können uns nicht mehr auf eine gemeinsame Realität einigen. Das bedroht den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.

Rückkehr zum Denken

Die industrialisierten Strukturen sind nicht nur in den Unternehmen stark, sondern auch in unseren Köpfen. Wir trauen uns nicht, die Möglichkeiten des digitalen Zeitalters zu nutzen, um freier zu denken und uns freier zu bewegen. Wir brauchen das freie Denken aber, um die Probleme unserer Zeit zu lösen.

Leben auf der Exponentialkurve

Die exponentielle Geschwindigkeit des digitalen Wandels überfordert den Menschen. Er versteht sie mit seinem linearen Denken nicht und klammert sich noch mehr an bestehende Strukturen.

Leben first – Technology second

Im Zentrum steht die Frage: Welches Leben wollen wir führen?