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Die Fragmentierung der Welt

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Fragmentierte Architekturstruktur des Porsche-Museums

Fragmentierte Architekturstruktur des Porsche-Museums in Stuttgart – ein Spiegel unserer Welt

»Alles hängt mit allem zusammen!«. Dieser Gedanke war der Schlüsselmoment meiner gesamten Schullaufbahn. Ich war schon eine Dekade zur Schule gegangen, als ich begriff, dass alle Fächer, die ich bis dato als getrennte Welten wahrgenommen hatte (denn so werden sie ja auch vermittelt), miteinander zusammenhingen: Geschichte, Deutsch, Kunst, Sozialkunde. Dass jede Zeitströmung ihre Politik, ihre Literatur und ihre Kunst (und mehr) hervorgebracht hatte. Ich war völlig geflasht und erzählte meiner damaligen Deutsch-, Latein- und Geschichtslehrerin begeistert von meinem Denkdurchbruch. Sie war hocherfreut und brachte mir bei nächster Gelegenheit ein Buch mit: »Kulturgeschichte der Neuzeit« von Egon Friedell.

OMG – Festplatte fragmentiert

Früher war das einmal so (bevor wir unsere Daten nur noch in der Cloud ablegten), dass, wenn der ITler sagte, eine Festplatte sei fragmentiert, dann waren das schlechte Neuigkeiten, und die Platte musste defragmentiert werden. Bei der Defragmentierung wird die »Anordnung der Dateien im Speicher so umgeordnet, dass zusammengehörige Teile zusammenhängenden Speicherplatz zugewiesen bekommen«. Das verrückte ist: Unsere Welt und unser Wissen sind heute permanent fragmentiert. Wir haben uns heute so dermaßen daran gewöhnt, dass wir ganz vergessen haben, dass es eine Zeit gab, in der es mal nicht so war.

Die Fragmentierung ist überall

Achtung – Gedankensprung: Diese Fragmentierung und Super-Spezialisierung der Welt hat mit der wissenschaftlichen Revolution vor ca. 500 Jahren begonnen. Die Geschichte der Wissenschaften ist dabei vor allem eine Geschichte der Streitereien, bei denen sich Wissenschaftler meistens bis auf Blut und Erzfeindschaft eben genau um die Kategorisierung ihres jeweiligen Wissenschaftsbereichs streiten, wie Bill Bryson vortrefflich in seinem Buch »Eine kurze Geschichte von fast allem« erzählt. Wie oben bereits im autobiografischen Beispiel erwähnt setzt sich dann die Aufspaltung des Wissens in der Schule fort, indem wir Wissen lernen, das in Fächer aufgeteilt ist.

Von der Punkband ins Pressbüro

Mit der Wahl von Studium und Beruf geht die Spezialisierung weiter, man muss sich quasi für eine Sache entscheiden. Eine mir gut bekannte Person, studierte Germanistin, erzählte mir neulich erstaunt, sie hätte sich noch im Studium für so viele Dinge interessiert, sie hätte viel fotografiert und gezeichnet und diese Fähigkeiten sowie die Tatsache, dass sie sie einstmals besaß, hätte sie schlichtweg in der eindimensionalen Ausübung ihres Berufs und den damit eng gesteckten Vorstellungen und Anwendungsbereichen des Berufs, schlichtweg vergessen. Einer meiner Lieblingsautoren, Tom Hodgkinson, schreibt in seinem Buch »Anleitung zum Müßiggang: Wenn wir in die normale Arbeitswelt eintreten, entsetzen uns sehr bald die Erniedrigungen, denen wir dort ausgesetzt sind. Der mieseste Job, den ich hatte, war der als Rechercheur für eine Boulevardzeitschrift nahe der Chancery Lane in London. Zwei Jahre zuvor, an der Uni, hatte ich Romane gelesen, Redaktionen geleitet, in einer Hardcore-Punkband mitgespielt und das Bett verlassen, wenn ich Lust dazu hatte. Jetzt rief ich jeden Tag acht Stunden lang das Pressebüro von Asda an, um den Preis für gebackene Bohnen zu erfahren.«

Experten-Verehrung

Das legt den Schluss nahe, dass die berufliche Spezialisierung und Kategorisierung per se nicht unbedingt glücklich machen. Achtung, These: Der Taylorismus des industriellen Zeitalters zerlegte ehemals durchgängige, lineare Prozesse und Handwerke (ursprünglich von einer Hand ausgeführt) in extrem detaillierte und spezialisierte Arbeitsaufgaben am Fließband; fortan sah der Ausübende nie mehr das ganze Bild, sondern immer nur seinen einzelnen Handgriff. Das ist der Fluch der Arbeitsteilung: Unser Wissen für das große Ganze ist uns im industriellen Zeitalter einfach verloren gegangen. Je vertiefter unser Wissen ist, umso mehr vergisst der Mensch seine Fähigkeit, die Dinge ganzheitlich zu sehen. Dennoch scheinen wir gar nicht wahrzunehmen, dass uns etwas verloren gegangen ist. Im Gegenteil, in der Wertschätzung ist es genau anders herum: Bezeichnenderweise steht der Experte heute unangefochten und hochangesehen an der Spitze der Anerkennung der hochspezialisierten, geschäftlichen Welt. Dem Begriff »ganzheitlich« haftet demgegenüber ein eher negativer, esoterischer Beigeschmack an.

Denkboxen

Das fragmentierte Muster setzt wie in einem unendlichen Mandelbrot-Bild in der gesamten Arbeitswelt fort; diese ist eingeteilt in Unternehmen und Branchen, meist fest in sich geschlossen. Ebenso fest die Berichterstattung in der Presse: Fachjournalisten, die einem Ressort angehören, berichten über feste Branchen in bestimmten Branchenblättern. Getrennt Welten und »Denkboxen« (danke Annette für dieses schöne Wort), die nebeneinander her existieren. Austausch und Vernetzung: nicht vorgesehen.

Digitale Denkboxen: Datenbanken und Powerpoint

Interessant noch schnell auch der Seitenblick nicht nur in die Einteilung von Wissen, sondern auch dessen Aufbereitung, wann immer es vermittelt und kommuniziert wird, in Datenbanken, Keywords, Menüs, Bulletpoints und Benutzeroberflächen. All diese Systeme sind Spiegel der Fragmentierung. Die Matrix und die Bedienstruktur als die vorherrschende Logik des Informations- und Softwarezeitalters zerlegt Informationen in Einzelportionen, die fortan nur noch  getrennt abrufbar sind. Und so, da bin ich sicher, sind heute per Prägung und Neuroplastizität (lies hier Michaelas Beitrag über Ruby Wax’ Sane new world) auch unsere Gehirne geformt: Wir denken wie Datenbanken, Software oder in Powerpoint-Präsentationen. Wo man hinschaut, das Wissen der Welt ist überall so zerlegt und in fein ziselierte Strukturen aufgeteilt. Alles, was früher einmal Eins war, ist aufgedröselt in viele verschiedene Schubladen.

Fragmentierter Scherbenhaufen

Und selbst diese kleinteiligen Schubladen lösen sich heute nun vollends auf: tagtäglich und kontinuierlich werden wir umspült von Nachrichtenfetzen, Social Media Posts, E-Mails im Sekundentakt, Push Notifications. Der lineare Denkvorgang wird ständig unterbrochen, unser Wirklichkeitsempfinden besteht nicht mehr aus einem runden Bild, sondern fragmentierten Scherben.

Durch die Aufteilung der Welt haben wir verlernt, die Dinge ganzheitlich zu sehen. Die Fragmentierung unseres Weltbilds entfremdet uns zusehends von uns selbst und macht unglücklich und krank; alles, was dazu beiträgt, die Dinge wieder zusammenzuführen, macht glücklich und hat heilende Kräfte. Weil das menschliche Gehirn eben so konstruiert ist, dass es Sinnzusammenhänge herzustellen versucht, um die Welt zu erklären.

Wie fügen wir das alles wieder zusammen? 

Ich beobachte, dass lineare Tätigkeiten im Allgemeinen dem menschlichen Gehirn gut tun, beispielsweise ein Buch lesen. Gutes Storytelling. Nicht umsonst ist eine archaische Form des Menschen, sich die Welt zu erklären, die Geschichte. In der Geschichte laufen alle Fäden zusammen. In unseren Storytelling-Workshops üben wir übrigens zusammen mit unseren Teilnehmern, Bulletpoints wieder zu durchgängigen Geschichten zu verflechten – eine echte Defragmentierungs-Kur.