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Warum ich das »Diary of the digital age« schreibe

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Ich bin kein Digital Native. 

Ich bin im letzten Jahrhundert geboren.

Meine eigene Kindheit ist durch ein paar brauntönige Aufnahmen im Familienalbum dokumentiert, während ich selbst im ersten Lebensjahr meiner eigenen Kinder 10.000 Fotos in die Cloud gejagt habe. Musik gehört habe ich als Kind auf Kassette, als Teenager auf Vinyl, als Twen auf CD, in den 30ern auf dem iPod und den 40ern auf Spotify. Ich gehöre dem Jahrgang an, der im ersten Semester des Designstudiums noch mit Rapidograph gezeichnet hat, um im 4. Semester »if-then« mit Lingo und im 6. mit HTML zu coden. Während ich studiert habe, gab es auf einmal »das Internet« und »E-Mail«. Meine erste Adresse in dieser neuen Welt war 100622.2766@compuserve.com.

Digital Age

In meinen ersten Berufsjahren um die Jahrtausendwende herum platzte die Dotcom-Blase. Ich hatte in dieser Zeit in London und Berlin gelebt, mit so einem »Lost in Translation«-artigen Gefühl – am richtigen Ort, zur richtigen Zeit, nur leider völlig fremd zu sein. In der überdimensionierten Handtasche (Lies hier meinen Beitrag »Konvergenz und Divergenz – Über die Ordnung der Dinge«, am Beispiel eines völlig unterschätzten Forschungsgebiets: einer Frauenhandtasche) für meine urbanen Streifzüge hatte ich ein Nokia Handy, ein Filofax, einen Palm Pilot (damals heißer Scheiß), einen mp3-Player und eine Canon ixus (das letzte Aufbäumen der Kleinbildformate vor der Digitalisierung der Fotografie). Und fragte mich, warum nicht mal jemand EIN Gerät für alles erfinden könnte. Damals konnte ich nicht ahnen, dass genau diese Erfindung, das iphone, das alle diese und viel mehr Funktionen in einem Gerät bündelte, uns innerhalb eines Jahrzehnts zu herumirrenden »Smombies« machen würde (aus Smartphone und Zombie, Jugendwort des Jahres 2015).

digital age

Es ist ja vielleicht kein Zufall, dass die Zeitenwende genau auf den Jahrtausendwechsel fiel. Für die Menschen ist die Zeitrechnung ja fast eine Art »self-fulfilling prophecy«, symbolisch aufgeladen. Die Vorahnung, dass etwas großes passieren würde, äußerte sich in der Angst vor dem »Millenium Bug«. Es gab viele, die damit rechneten, dass zentrale Computersysteme versagen und unsere Zivilisation zusammenbrechen würde, weil die Developer den Fall »2000« schlichtweg nicht vorgesehen hatten. In der Silvesternacht des 31. Dezembers 1999 passierte nichts dergleichen. Und doch geschah etwas Großes: In dieser Nacht gingen mit dem 20. Jahrhundert das analoge Zeitalter, das Zeitalter der Industrialisierung, endgültig zu Ende.

Ich kenne beide Welten, die analoge und die digitale. Ich bin nicht Generation X, Y, Z. Ich bin kein Millenial und kein Digital Native. Ich gehöre durch mein Geburtsjahr der einzigen Generation an, die mit einem Bein im analogen und mit dem anderen im digitalen Zeitalter steht. Zeit, ein größeres Bild zu zeichnen. Zeit, die Geschichte des Übergangs aufzuschreiben. Als »Zeitzeugin«.

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Ich komme aus dem digitalen Sturm.

Ich wollte genau dorthin, als eine Art Forschungsreise. So, wie andere Leute eine Südpol-Expedition, eine Nanga Parbat-Besteigung oder eine Südamerika-Expedition unternehmen, bei der man ein neues Land entdeckt und kartografiert, oder Tiere und Pflanzen untersucht und katalogisiert.

Ich wollte immer wissen, wie es dort ist, im Auge des Sturms, in einer Arbeitswelt und Industrie, in der die Technologie der Treiber ist. In einer Branche, die kurz vor der Disruption steht. Alle Parameter, auf denen mein Denken beruht, hinterfragen. Immer neues lernen. Immer genau da sein, wo Veränderung passiert.

Ich hab genau hingeschaut. Ich war einer der Treiber. Und jetzt bin ich zurückgekehrt, und mein Weltbild hat sich total verändert.

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Technologische Entwicklung mit exponenzialer Geschwindigkeit

Durch die digitale Transformation wird nichts wird mehr so sein, wie es früher war. Das Leben wird sich verändern, unser Miteinander wird sich verändern, die Gesellschaft wird sich verändern, wirtschaftlich, sozial, kulturell und politisch. Jetzt könnte man sagen, das war schon immer so in der Geschichte der Menschheit; die Geschichte wiederholt sich, der Mensch bleibt immer gleich, seit Tausenden von Jahren.

Aber einige einflussreiche Faktoren sind dieses Mal anders.

Das ist zum einen die exponenziale Geschwindigkeit, mit der die Veränderung geschieht. Dauerte es noch 8.000 Jahre von der landwirtschaftlichen Revolution zur industriellen Revolution, so liegen zwischen dieser und der digitalen Revolution nur mehr 200 Jahre. Lagen zwischen der Mondlandung und der Erfindung des Internet noch 22 Jahre, so waren es zwischen letzterem und der Entschlüsselung des menschlichen Genoms nur noch 9 Jahre.

Damit unmittelbar zusammenhängend ist eine zweite Treibergröße die exponenziale technologische Entwicklung. 90% aller Computerdaten weltweit wurden allein in den vergangenen zwei Jahren generiert. Laut Ray Kurzweil wird die Rechenleistung eines Computers 2023 erstmals die des Menschen schlagen; 2045 wird die weltweit zur Verfügung stehende Computer-Rechenleistung die aller menschlichen Gehirne dieses Planeten übertreffen. Noch nie hatte der Mensch in seiner Vergangenheit ein solch mächtiges Werkzeug geschaffen.

Was uns direkt zum dritten Faktor bringt, der die Rechnung »Die Geschichte wiederholt sich – der Mensch bleibt immer gleich« zerschießt: Der Mensch ist es, der durch seine omnipotenten technologischen Erfindungen eben nicht gleich bleiben wird. Er wird über seine körperlich und intellektuell eng gesteckten Gegebenheiten hinauswachsen und »gottgleiche« Fähigkeiten entwickeln.

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Wenn sich alles ändert – Was bleibt?

Wenn ich darüber nachdenke, lebe ich schon immer mit einem historischen Grundrauschen in meinen Gedanken. Mit einem ganz starken Bewusstsein, kein einzigartiges Individuum, sondern einfach ein Kind meiner Zeit zu sein, das aus irgendeinem irren Zufall heraus genau diesen Zeitpunkt auf der nach vorne und hinten endlosen Zeitachse erlebt. Mit diesem Grundgefühl habe ich immer alles dokumentiert: Gedanken, Ideen, Tagesabläufe, das Leben in den Städten, das Familienleben; Regale und Cloudspeicher voll mit Texten, Tagebüchern, Blogs, Fotos.

Erst jetzt wird mir langsam klar, welche Rolle meine Generation und ergo ich selbst spielen werden: Wir sind die Generation des Übergangs ins digitale Zeitalter. Also sehe ich es, die seit vielen Jahren alles dokumentiert, als meine Aufgabe an, genau diese Zeit des Übergangs zu beschreiben. Völlig subjektiv, aber mit dem Anspruch, es so zu erzählen, »wie es wirklich war«.

Es wird unendlich viel geschrieben in den digitalen Medien unserer Zeit, die Social Media gleichen einer weltweiten Echtzeit-Gerüchteküche, 1000 fragmentierte Informationsschnipsel schwirren einem permanent im Schädel umher. Ich habe für mich das Bedürfnis, die größeren Zeitläufe zu sehen, langsamer getaktete, lineare Gedankengänge zu denken, ein größeres Bild zu zeichnen, um nicht verrückt zu werden. Während sich alles verändert, während wir viele Dinge verlieren werden, darüber schreiben, was uns bleibt. Was den Menschen und die Menschlichkeit auszeichnet, auch wenn Technologie der Treiber ist und der Sapiens gerade dabei ist, seine eigenen Grenzen endgültig zu überwinden.

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Wir sind Zeitgenossen

Du und ich haben in jedem Fall eines gemeinsam: Wir leben zur gleichen Zeit. Und es ist die gleiche Zeit, die uns prägt. Also sind wir Zeitgenossen. Die Gedanken von denen, die zu anderen Zeiten gelebt haben, können wir in Büchern lesen. Das, was die nach uns denken, werden wir nie kennen. Nur wir Zeitgenossen können uns wirklich austauschen.

Wie erlebst Du diese Zeiten des Umbruchs (egal, ob mit einem Bein im analogen Zeitalter oder nicht)? Geht es Dir genau so? Dass die Welt, wie Du immer dachtest, dass sie ist, und wie uns unsere Eltern beigebracht haben, dass sie funktioniert, sich gerade auflöst? Und dass Du nach dem suchst, was denn bleibt?

Ich freue mich, wenn Du Dich stellenweise wiedererkennst in unseren Themen. Wenn Du unserem Blog folgst und uns Feedback gibst.

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