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»Die gar nicht mehr so schöne neue Welt« – Rezension »Wir Internetkinder« im MinD Magazin

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Diese Rezension erschien im April 2022 im MinD-Magazin, dem Mitgliedermagazin von MENSA in Deutschland, Ausgabe 147

von Erwin Klein

»Wir Internetkinder« – ein Buch von Julia Peglow

Ein M hat ein Buch geschrieben und veröffentlicht. Na und? Das passiert ständig, wir weisen hier im Mag unregelmäßig auf mensanische Neuerscheinungen hin.
Dieses Buch von Julia Peglow ist etwas besonderes. Es heißt »Wir Internetkinder« und beschreibt eine Generation, die mehr technologische Umbrüche und Veränderungen erlebt hat als jede Generation vor ihr. Und sie beschreibt eine Lebenswelt, in der Hochbegabung, technisches Verständnis, Bereitschaft für Neues und das Verarbeiten von Enttäuschungen eine zentrale Rolle spielen.
Es geht um die Digitalisierung unseres täglichen Lebens in den vergangenen 40 Jahren und deren Folgen.
Julia ist Jahrgang 1973, studierte Designerin und 20 Jahre lang in der Kreativ- und Digitalbranche tätig. 2017 beschloss sie, anders zu arbeiten, um, wie sie sagt, »wieder zum Denken zu kommen«. Ein Ergebnis dieses Anders-Arbeiten ist das vorliegende Buch, erschienen bei Hermann Schmidt, einem sehr renommierten Fachverlag für Typografie und Grafikdesign.

In ihrem Vorwort schreibt sie: »Dieses Buch handelt von meiner Suche nach dem Ursprung dieser rätselhafte Vorgänge. Worin genau sie bestehen und wann das eigentlich angefangen hat. Es ist der Versuch, eine Sprache zu finden für die unsichtbaren, subtilen Veränderungen, die innerhalb weniger Jahre unser Leben auf den Kopf gestellt haben.«
Auch diejenigen, die nicht mit Smartphone und PC aufgewachsen sind, können sich kaum noch erinnern, dass eine Welt ohne Internet wirklich existierte und tatsächlich funktionierte. Eine Zeittafel im Anhang des Buches war deutlich die rasante Entwicklung:

1973: Erster Personal Computer »Alto«
1977: Der »Apple II« wird vorgestellt
1979: »Walkman« von Sony
1984: Die erste E-Mail erreichte Deutschland
1990: Beginn der kommerziellen Nutzung des Internets
1998: Sergey Bryn und Larry Page gründen Google
2000: Mehr als die Hälfte des internationalen Informationsaustauschs läuft über das Internet
2004: Gründung von Facebook
2007: Das iPhone wird vorgestellt
2014: Facebook übernimmt WhatsApp für 20 Mrd. Dollar
2017: 39 % aller Internetnutzer berichten über Bullying, Hass und Einschüchterung im Netz

Julia Peglow ist kein Digital Native, sie gehört – so beschreibt sie es – einer Generation an, die »mit einem Bein im analogen und mit dem anderen im digitalen Zeitalter steht.«
Am Anfang stand die Euphorie, die Entdeckung des virtuellen Raums, der Rausch und der Hype. Der erste Apple Mac Performa 630, erste Erfahrungen mit neuen Programmen wie Adobe Photoshop oder Macromedia Director.
Julia berichtet von dem Gefühl, zu den Auserwählten zu gehören. Eine von den zu sein, die dem virtuellen Raum als Designerin ein Gesicht gaben. Sie beschreibt es so: »Mitleidig schaute ich damals auf die Studenten und Professoren, die immer noch an ihren Printbroschüren und Plakatserien arbeiteten. Sie waren jetzt – in meinen Augen – die Rückwärtsgewandten.«
Danach folgt die Karriere in Agenturen und Kommunikationsbüros und, man ahnt es scho, die Ernüchterung.
Die schöne neue digitale Welt war nicht nur schön. Die Mit-Arbeit an einer neuen Wunderwelt verlor ihre Faszination und der Rausch wurde zum Kater. »Wir waren so mit uns selbst beschäftigt, dass wir gar nicht bemerkt haben, dass andere die Superstrukturen um uns errichtet haben, die das Internet heute zu einem kalten, kontrollierten und kommerziellen Ort machen.«
Julia Peglow zog die Konsequenzen. Sie sah das Zerstörerische der unentwegten Beschleunigung, sie entdeckte den Wert des »heilsamen« Bücherlesens neu, und 2017 stieg sie aus ihrem bisherigen Berufsleben aus.
Heute berät sie Unternehmen und schreibt auf ihrem Blog »diary of the digital age«.
Ihr Buch (Untertitel: »Vom Surfen auf der Exponentialkurve der Digitalisierung und dem Riss in der Wirklichkeit einer Generation«) liest sich selbst wie ein Tagebuch. Man blickt ihr bei ihren Gedankengängen und dem Beschreiben ihrer schönen neuen Arbeitswelt praktisch über die Schulter.
Das macht ihr Buch lebendig und nachvollziehbar. Darüber hinaus ist es herausragend schön gestaltet.
Jede und jeder über 40 (und auch Jüngere) haben ihre eigenen Digitalisierungserfahrungen. Ob im Job, an der Spielkonsole, im Zoom-Chat oder auf Social Media.
Fast allen dämmert es, dass die strahlende neue Welt möglicherweise auch ein paar ziemlich dunkle Ecken hat. Die Stichworte sind bekannt: Datenschutz, Überwachung, Machtkonzentration, Künstliche Intelligenz. »Wir Internetkinder« ist keine Kampfschrift gegen das vermeintlich Böse da draußen. Aber es liefert ein paar ziemlich gute Ansätze zum Nachdenken über das, was in den letzten Jahrzehnten passiert ist.