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Die Befreiung des Denkens: Julia Camerons »The Artist’s Way«

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Gehört dieses Buch in diesen Blog? Ich war erst nicht sicher. Aber dann dachte ich, alles, was zur Befreiung des Denkens dient, gehört auch in das »Diary of the digital age«. Immerhin habe ich mich gerade selbst befreit. Immerhin stehen wir an einer Zeitenwende, und überall kann man beobachten, dass Menschen und Organisationsstrukturen im alten Denken verharren und sich schwer tun, ihren Standpunkt zu verändern.

Dieses Buch ist ein Klassiker, Amazon No. 1 Bestseller in der Kategorie »Professionelles Schreiben«; gerade ist die 25. Jubiläumsausgabe erschienen. Das Buch stammt also aus den 1990er Jahren; man merkt ihm an, wie viel Weisheit und neue Erkenntnis im Laufe der vielen Auflagen hineingeflossen sind. Die beschriebenen Mechanismen und Prinzipien sind jedoch tatsächlich zeitlos. Empfohlen hat es mir ein Freund, ein Musiker, der sich ebenfalls vor kurzem selbst befreit hat – und der »The Artist’s Way« im wahrsten Wortsinn beschritten hat: er hat das Buch auf dem Jakobsweg gelesen.

Künstler, Unternehmer, Freigeister und Pioniere

Es steckt unglaublich viel Weisheit über kreative Prozesse in diesem Buch. Es ist jedoch kein klassisches Business-Buch! Wer also nach Management- und Innovationsprinzipien sucht, wird zwar fündig werden und im besten Fall sogar viel über sich und die eigene Organisation erfahren. Aber er sei gewarnt: er findet in Julias Buch keine herkömmlichen Business-Floskeln, sondern einen eher spirituellen Weg. Im Mittelpunkt steht hier das kreative Individuum, der Künstler selbst, der sich befreit (aus seinem Dasein als »Shadow artist«). Und dieser innere Künstler, liebe Freunde, ist übertragbar. Denn er steckt für mich in jedem Unternehmer, Freigeist und Pionier, der in unbekanntes Terrain aufbricht.

Kreativitätsverhinderer

Das Buch seziert Schritt für Schritt die unzähligen Kräfte und Mechanismen in unserer Welt, die systematisch Kreativität verhindern. Der zentrale Verhinderer dabei sind wir selbst (»The enemy within«): Denn wir tragen selbst gut einstudierte Mechanismen tief einplantiert in unserem Denken, unserem Selbstverständnis und in unserer Sichtweise mit uns herum. Kennen tun wir den Effekt alle: es ist der »innere Zensor«, die nagende Stimme in unserem Ohr, die beständig Gegenargumente vorbringt, warum es nicht gut ist, was wir tun. Der Prozess, sich aus diesen Fesseln zu befreien, kann anstrengend sein: »As we gain – or regain – our creative identity, we lose the false self we were sustaining. The loss of this false self can feel traumatic: I don’t know who I am anymore. I don’t recognize me.«

Aber auch das Umfeld ist entscheidend beteiligt; das Buch beschreibt Typen von Verhinderern und ihre Taktiken im engsten Umfeld von Familie und Freunden; die »Poisonous Playmates« und »Crazymakers«, die vielleicht auch nur blockierte Künstler sind und argwöhnisch und missgünstig reagieren auf den Freund, der sich befreit. Diesen Effekt habe ich selbst schon oft beobachtet: als die Tochter einer Freundin von mir aus eigenem Antrieb beschloss, ein Jahr auf ein englisches Internat zu gehen, rieten ihr alle ihre Freundinnen dringlichst davon ab. Warum scheint das reflexartig zu geschehen? Umso wichtiger ist es für den sich befreienden Künstler, sich ein Umfeld  aus Gleichgesinnten zu schaffen, das sich gegenseitig unterstützt, bestärkt und fördert.

Perfektionismus

Julia räumt auf mit tief implantierten Mythen über Kreativität, unter anderem mit dem »Perfektionismus«. Sie beschreibt den Perfektionismus als einen Verhinderungsmechanismus (lies dazu meinen Beitrag »Prototyping Ideas«: »Perfektionismus verhindert Fortschritt. Er verhindert virtuoses Ausprobieren und befördert die Angst davor, Fehler zu machen«); dass der eigene perfektionistische, riesengroß formulierte Anspruch viele davon abhält, überhaupt den ersten Schritt zu tun: »Instead of enjoying the process, the perfectionist is constantly grading the results.«. Und dass das eigentliche Machen, Irren und Weitermachen, in vielen 1000 kleinen Schritten, viel wichtiger ist: »Progress, not perfection, is what we should be asking of ourselves.« Oder, um es mit einem wunderschönen Miles Davis-Zitat zu sagen: »Do not fear mistakes. There are none.«. Apropos: das Buch ist eine wahre Zitat-Fundgrube.

Schattenkünstler überall

Das Buch ist augenöffnend und inspirierend; man kann es auch lesen ohne die vielen Übungen zu machen. Seither erkenne ich viele Verhinderungsmechanismen an mir und an anderen noch klarer. Und: Seitdem sehe ich nur noch blockierte Künstler um mich herum. Ich habe sogar schon überlegt, ob nicht speziell Designer alle irgendwo blockierte bzw. industrialisierte Künstler sind? Knallharte Dienstleister, die nur Auftragsarbeiten bearbeiten; immer rational argumentierend. Die ein Designstudium gemacht haben, weil sie sich einfach nicht getraut haben, an die Kunsthochschule zu gehen? Ich weiß es nicht. Nur so ein Gedanke.

»The Artist’s Way: A Course in Discovering and Recovering Your Creative Self« (English) bei Amazon

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