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Curator vs. Creator oder: Das Ende des menschlichen Geists

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Dieser Blogpost erschien als erstes im Online Bookazine und Bookstore VINCENT & VOLTAIRE unter dem Titel »Curator vs. Creator oder: Das Ende des menschlichen Geists«, als erste Kolumne unseres gemeinsamen Symposiums 2022

Im Digitalzeitalter nehmen uns zunehmend Maschinen und Künstliche Intelligenzen das Denken ab. Das ist bequem, nimmt uns viel Arbeit ab – aber schaffen wir uns damit nicht selbst ab? Sharen, pinnen und sampeln wir nicht nur noch, statt wirklich neues zu erfinden? Laufen wir nicht als Content Creators dem kuratierenden Algorithmus hinterher? Und spielen sich unser Leben und unser Job nicht schon längst „below the API“ ab? Anlässlich des „Tags des menschlichen Geistes“ fragt sich Julia Peglow also zurecht: Brauchen wir ihn eigentlich noch, den menschlichen Geist?

Outgesourcte Denkkapazitäten

Vieles, was der menschliche Geist früher leisten musste, haben wir ausgelagert. Der menschliche Geist hat schon immer Werkzeuge erfunden, um sich selbst zu entlasten: Taschenrechner nehmen uns das Kopfrechnen ab, das Navi die Orientierung und das räumliche Vorstellungsvermögen; und noch eine andere, viel elementarere Erfindung ermöglichte es unserer Species, die eigenen physischen Grenzen des Gehirns zu überwinden, größere Datenmengen zu verarbeiten und zu speichern, als sich jemals ein einzelnes Gehirn merken hätte können: die Schrift.

Superbrainpower

Schlappe fünftausend Jahre später haben wir mit der Speicherkapazität der Schrift gewaltige, kristalline Strukturen geschaffen, die die Welt regieren: Geld- und Zahlensysteme, Paragraphen, Steuergesetzgebung. Berufe, die diese Systeme kontrollieren, hatten von jeher ein hohes Ansehen und wohlgehütete Privilegien. Doch just in unserer Zeit, in historischen Zeitläufen gemessen erst einen Wimpernschlag zuvor, passierte etwas interessantes: der Mensch erfand eine neue Realitätsebene, auf der fortan die Datenverarbeitung vonstatten ging: digitale Daten. Dieser Paradigmenwechsel stellte alle bisher gültigen Gesetze auf den Kopf – vor allem im Bezug auf eben jene Frage, um die es heute hier geht: Welche Innovationen der menschliche Geist hervorbringt, um sich selbst zu entlasten, erweitern und empowern. Denn anders als die Steintafeln, in die die Sumerer ihre Steuereinnahmen ritzten und so die erste Schrift der Menschheit erfanden, ermöglichte die Digitalisierung allen Orts eine exponentielle Zunahme von Verarbeitungsgeschwindigkeit, Brainpower, Wachstumraten, User Growth.

Ein Nebeneffekt: Sie stellt alte Machtverhältnisse auf den Kopf! Ausgerechnet die Brainpower der privilegierten Berufe – Jurist:innen, Steuerberater:innen, Anwält:innen, Finanzler:innen – muss befürchten, demnächst effizienter durch künstliche Intelligenzen ersetzt zu werden. Denn je strikter die Strukturen in einem Bereich, je ausgeklügelter die Matrix, je klarer die Abläufe und Regeln, desto einfacher kann Künstliche Intelligenz diese Tätigkeiten übernehmen. Seither geht die Angst um bei den Juristen und Anwälten, vom Thron gestoßen zu werden.

Der algorithmisierte Kreativprozess

Aber wie verändert die Digitalisierung und Aufrüstung durch Künstliche Intelligenz die Königsdisziplin des menschlichen Geistes: die Kreativität? Die Fähigkeit des Menschen, eben nicht in einem vorgefertigten System zu agieren, sondern etwas auf einem weißen Blatt Papier zu erfinden? 

Im Laufe der letzten Jahre ist mir in meiner alten beruflichen Welt, der „Kreativindustrie“, eine eigenartige Entwicklung aufgefallen: Der Entwurf ist nicht mehr etwas, was ein Designer offline anfertigt, aus einer Idee in seinem Geist, im stillen Kämmerlein. Der Entwurf passiert online: Designer speisen Ideen in den riesigen, kollektiven Bilderpool ein und suchen wiederum im gleichen Bilderpool nach Ideen. Sie beginnen den Kreativprozess, indem sie googeln, downloaden, sharen und pinnen. Das bedeutet, sie machen die kollektiven Bildwelten des Internets zu ihrem Ausgangspunkt, sie greifen auf das zurück, was die globale Designcommunity vor ihnen schon mal gedacht und gemacht hat. Kreativität ist also weniger ein Akt des Erfindens, sondern des Samplings geworden. Sampling hat, in der Popkultur genauso wie im Digitalzeitalter, die originäre Idee abgelöst. Wenn der Schwarm sampelt, wenn das gleiche Material immer und immer wieder neu aufbereitet wird, ist auch hier ein mächtiger, gleichmacherischer Algorithmus am Werk. Das Ergebnis ist, dass über kurz oder lang alles irgendwie gleich aussieht – global mainstream design: Interior Design für Coffeeshops und Barber Shops, Corporate Design für Start-ups und Packaging Design für Craft Beer gleichen sich heute überall auf dem Planeten. Und das alles, weil der vernetzte, globale Designschwarm eben teilt, pinnt und sampelt; das ist die kreative, kollektive Arbeitsweise des Digitalzeitalters – in der vernetzten, digitalen Öffentlichkeit. 

Aber ist es so überhaupt noch möglich, dass der einzelne menschliche Geist aus sich heraus eine originäre Idee kreiert? Ist das gar das Ende der altmodisch hergestellten, nämlich von einem Gehirn ausgedachten Idee? Kann dann nicht auch bald Künstliche Intelligenz den Kreativprozess viel effizienter durchführen und damit den Job des Kreativen übernehmen? Bilderkennungs-Bots, die durch die Weiten des Internets crawlen und Bilder, Type und Icons durch KI immer wieder zu neuen Global-Mainstream-Designs zusammensampeln. Texterkennungs-Bots, die die Abertausenden Terabyte von Content, die jeden Tag ins Netz eingespeist werden, durch KI, basierend auf den ewig gültigen Mustern der griechischen Tragödie und Heldensage, zu Mainstream-Bestsellern zusammensampeln – aus den Themen, die die Menschen auf Social Media am meisten beschäftigen. Haben sich also auch die Kreativen mit ihrem gesampelten, kollektiven Kreativprozess bald selbst abgeschafft?

Der kuratierende Algorithmus

Eine weitere Anwendung, bei der wir uns mit unserem menschlichen Geist unter den Scheffel des Algorithmus stellen, ist auf jenen Vertriebs-Plattformen im Netz zu finden, die menschlich generierten Content anbieten. Das verheißungsvolle Narrativ lautet, im Netz kann jeder publizieren, auf die Gate-Keeper der Vergangenheit sind wir nicht mehr angewiesen. Und doch arbeitet der Algorithmus auf Plattformen wie Youtube immer entgegen dem menschlichen Geist. In der echten Welt traut sich ein Mensch, der etwas zu sagen hat, an sein wie auch immer geartetes Erstlingswerk, er baut sich langsam eine Fangemeinde auf, erreicht idealerweise einen immer größeren Kreis an Menschen, die ihm folgen und ihn verehren. Der Algorithmus auf Youtube hat gar kein Interesse daran, dass die User:in einzelnen Content Creators loyal folgt, ihre „Lieblinge“ hat. Der Algorithmus will, dass du immer so viel unterschiedlichen Content wie möglich konsumierst. Das heißt, er wird alles daran setzen, die Beziehung zwischen Content Creator und Fan zu stören. Die Followerzahlen sinken, der Content Creator denkt, es liegt an seinem Content, den sein menschlicher Geist hervorgebracht hat, dass er nicht gut genug ist, und arbeitet sich auf – diese Fälle sind flächendeckend beobachtet und als Youtuber-Burnout bekannt. Fazit: In der Digitalisierung gibt die Maschinenintelligenz die Strukturen vor, in die sich der menschliche Geist und alles, was er hervorbringt, fügt. Wollen wir das?

Kritisches Denken – above the API

Wir sehen also, dass an vielen Verteilerpositionen bereits die Maschinenintelligenz übernommen hat – sie steuert den menschlichen Geist: unsere Kreativität, unsere Denkprozesse und Tagesabläufe. Wir optimieren Schlaf, Partnersuche, Ernährung und unsere Spotify Playlist of the Week. Wir tracken Schritte, lesen rund um die Uhr News, sammeln Follower und generieren Content. Aber wo bleibt da der menschliche Geist, der aus sich heraus denkt? Selbstbestimmt und frei? Haben wir den Algorithmen nicht schon lange das Denken überlassen?

Diese wahre Trennlinie des Digitalzeitalters definierte vor ein paar Jahren der Silicon Valley-Unternehmer Peter Reinhardt in einem klugen Beitrag auf seinem Blog. Laut ihm teilen sich Jobs in der Zukunft auf in die „Jobs above the API“ und die „below the API“ (Application Programming Interface – die Programmieroberfläche). Auf der Gewinnerseite sind die, die den Robotern sagen, was zu tun ist. Auf der Verliererseite die, denen die Roboter sagen, was sie tun sollen. Praktisch übersetzt: Entweder du bist der Coder, der den Lieferando-Code entwickelt, oder du bist einer der Typen, die der Algorithmus mit einer riesigen Thermobox auf dem Rücken auf dem Fahrrad im Regen kreuz und quer durch die Stadt schickt. Die Frage des Digitalzeitalters, die sich jeder, nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch in seinem Leben, stellen sollte, ist: Denkst du noch above the API? Oder kontrolliert dich schon die KI below the API?

Einen Dopplereffekt bringt die Tatsache mit sich, dass strukturell in genau diesen Entscheiderrunden above the API, genau da, wo Algorithmen entwickelt werden, jemand fehlt: der menschliche Geist. An diesen runden Tischen sitzen die Betriebswirt:innen, Ingenieur:innen, Programmierer:innen, Jurist:innen, Big Data Analyst:innen, Futurist:innen und UX-Designer:innen, allesamt vereint durch eine mono-kausale und technokratische, zukunftsbegeisterte Denkweise. Wer fehlt, sind die Geisteswissenschaftler:innen; die Vertreter des seit der Aufklärung praktizierten, kritischen, selbständigen Denkens: die Humanist:innen, Soziolog:innen und Philosoph:innen. Die im technologischen Diskurs die Frage vertreten, was richtig ist und was falsch. Und wie wir eigentlich leben wollen.